J. Monika Walther
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Was mache ich heute?

April 2019

Che farò senza Euridice, che farò senza il mio ben’, dove andrò...

singt Orpheus. Orpheus wurde der Legende nach nicht sehr alt. Wie es Euridice erging, wissen wir nicht. Ob sie im Hades mit Hermes, dem Götterboten und Seelenbegleiter ein Glück fand und für immer jung blieb? Wir wissen es nicht.

Was ich aber inzwischen lerne und weiß, wie es ist, älter und alt zu werden. Und damit meine ich nicht die Chance gelassener zu werden, mehr zu lachen und mit Humor auf allerlei Malaisen zu reagieren. Das ist der gute Teil. Aber es gibt auch die dunkle Seite. Wie sich jung gegen alt aufstellt. Bei den meisten Ausschreibungen wird das Lied der Suche nach der jungen Literatur nicht nur gesungen, sondern geschrien. Wir wollen junge Autoren. Innen weniger, aber auch. Preise, Stipendien für das Jungsein. Aber wie geht das auf Dauer? Oder wie sagte mal vor Jahren eine Dramaturgin: Da sitzt die Zukunft und zeigte auf eine blutjunge Nochnichtautorin, aus der auch nie eine wurde und das eine und einzige Stück hatten wir zusammen erarbeitet. Würde je eine junge Autorin einer alten helfen?

Ich habe fünfzig Jahre als freiberufliche Schriftstellerin und Regisseurin gelebt. Hauptberuflich. Damit habe ich mein Geld verdient. Bis heute schreibe, und veröffentliche ich. Fast jedes Jahr ein Buch, ein Hörstück. Kolumnen, Rezensionen auch. Ja, auch noch Preise und Stipendien. Hier geht es also nicht ums schluchzende Jammern.

Als Schriftstellerin gibt es mich in meinem Arbeitszimmer, aber mich gibt es zunehmend nicht mehr, weil die Karawanen weiter gewandert sind. Nicht nur, weil Dramaturginnen bei den Sendern weg sind, nicht nur weil in den Verlagen Lektorinnen in Rente gingen, sondern auch weil in den Netzwerken, Vereinen, in denen ich jahrelang für andere Mentoring machte oder Veranstaltungen organisierte, so gut, wie niemand mehr das Gespräch mit einer alten Schriftstellerin sucht oder will. So wenig wie hingeschaut wird, ob vielleicht auch ältere Kolleginnen Probleme haben. Nein, die haben nur die Jungen, die von einer Veranstaltung zur nächsten rennen. Und die Jungen heute müssen wie in allen Bereichen möglichst attraktiv, sexy und besonders sein, weswegen sie qua Alter strukturell besonders sind. Irgendein besonderer Hut muss sich finden, der den besonderen Kopf mit seinen besonderen Gedanken schmückt – um aufzufallen. Denn auch wenn die Alten mehr sind und die männlichen alten Autoren sich ganz gut in ihren Zirkeln schützen, die Jungen sind es, die in dem Gewerbe sichtbar und laut sind. Die von Literatur eher das Verständnis von Kunstgewerbe haben, die auch bereit sind nach den Schnittmusterbögen und Vorlagen der Verlage und Agenturen zu schreiben und deren Diskurs sich fast logischerweise mehr um Ränge, Cents, Abgabetermine, Wortmenge pro Tag und Werbung dreht. Nein, ich meine nicht diejenigen, die in der Regel handwerklich gekonnt Jerry Cotton, Rote Rosen oder Arztromane schreiben. Ich meine diejenigen, die zuerst fragen, was geht, was kann ich loswerden? Wie muss ich das anstellen? Was muss ich tun, damit –

Und davon gibt es inzwischen so viele junge Gewerbetreibende wie Sand am Meer. Sich mit ihnen zu unterhalten ist noch sinnfreier als Jüngeren zu sagen, dass es früher kein Handy und nach dem Krieg keine Orangen gab. Und ja, nach dem letzten Krieg gab es die Trümmer, die im Fernsehen jeden Tag spätabends zu besichtigen sind. Nein, ich meine das nicht als Kulturkritik. Vielleicht ist es wirklich so, dass fast keine Verständigung möglich ist, weil es kein Interesse gibt. Weil die strukturelle Selbstverliebtheit, von einem Selfie zum nächsten führt. Ja, ich merke, mein Interesse nimmt ab und meine Begeisterung jungen Kolleginnen zu helfen, tendiert inzwischen gegen Null.

Belong or not to belong hieß eine dreitägige Veranstaltung, veranstaltet vom Center for Literature – Burg Hülshoff. Und alles war ganz wichtig und great und strukturell bedeutsam. Für den VS durfte ich die Erzählung Kreidestriche lesen. Wer auf Facebook schauen mag, da waren sehr viele attraktive junge Leute, alle besonders. In der Diskussion, die keine war, sagte ich noch, es müsste erste Pflicht werden, dass alle miteinander reden und zuhören. Keine großen Dinge reden, sondern erzählen, was war, was ist, wie etwas gesehen wird. Im Kleinen. Genau das passiert nicht einmal auf solchen ach so wichtigen und aufgeplusterten Veranstaltungen. Nicht einmal im Ansatz. Vielmehr läuft da den Älteren gegenüber eine unterschwellige und schnöselige Kränkung mit. Bis hin zu der dummen Bemerkung, dass wir Alten die Klimakatastrophe verursacht haben. Stimmt doch, sagte noch so ein strukturell gebildeter junger Mann. Nein, denn ich ging gegen Faschismus und Pershingraketen auf die Straße, gegen Kiesinger und Notstandsgesetze, gegen den Krieg in Vietnam und für Frauenrechte, für Gleichberechtigung. Für Menschenrechte. Für erneuerbare Energie. Für Frauenzentren. Für Frauenhäuser. Zuletzt gegen den späten Raubtierkapitalismus und da trifft es sich mit dem heutigen zu späten Protest (denn auch die Jüngeren hätten ja schon vor zehn Jahren begreifen können, dass es so auf dieser einen Erdkugel nicht weitergeht) für andere Maßnahmen, um das Klima, die Lebensmöglichkeiten noch eine Weile zu bewahren. Ab davon, dass Menschenrechte, Gleichberechtigung, Achtung immer noch nicht für alle gelten. Dass auf der ganzen Welt brutale autokratische Regime zunehmen (die interessiert das Klima absolut nicht), dass die rechten Bewegungen dabei sind, sich sehr gut zu vernetzen, Schulungszentren aufzubauen. Die Faschisten gewinnen wieder Land und da macht es wenig Sinn auf ein paar „Abgehängte“ in Sachsen oder Italien oder in Nordfrankreich zu schauen. Es ist wie jedes Mal das Kapital, reiche Rechte, die den Faschismus fördern und gestalten.

Aber zurück zu Veranstaltungen wie Belong or not to belong. Die meisten sind austauschbar. Außer den Selfies ist den Veranstaltern die „Dokumentation“ wichtig: nicht die Verständigung über die Grenzen hinweg, das Zuhören, sondern die Darstellung für die Geldgeber und die Obrigkeit in den Ämtern, die sagen kann: Schaut, alles fotografiert, aufgenommen, archiviert. Wir waren tätig. Und alle haben gelächelt. Alles war strukturell gut. Nur eben Verständigungen gab es nicht. Und die Arbeitsbedingungen für diejenigen, die reden, lesen, sitzen sollten, waren wie meist inzwischen, miserabel.

Aber das ist so geworden. Die Achtsamkeit nimmt insgesamt ab. Da wird bei der Organisation von Lesungen nicht mehr überlegt oder gefragt, was brauchen die, die lesen und diskutieren? Ein Glas Wasser. Einen Tisch. Einen zum Tisch passenden Stuhl. Oder ein Pult. Gar Licht? Hauptsache das Ganze wird dokumentiert, gefilmt, aufgenommen, gespeichert. Es gibt keinen Blick für die anderen. Sicher, auch viele alte Herrschaften und Damen haben keinen Blick. In den Familien und Verwandtschaften kann es gut gehen. Schon in den Vereinen schimpfen die einen über die anderen. In der Gesellschaft steht jung gegen alt, was auch ökonomisch nicht sinnvoll ist. Dabei wäre es dringend notwendig sich zu verbünden gegen die neue Restauration, für ein anderes Miteinander. Für. Es gibt sehr viel, wofür Änderungen, neue Politikformen nötig sind. Und so wenig, wie alle unter dreißig von gar nichts eine Ahnung haben, so wenig sind alle über fünfzig zurückgebliebene Vollzeitdeppen, die nicht wissen, was heutzutage los ist. Weit gefehlt und wenig sinnvoll, um handlungsfähig in diesen Zeiten zu sein. Reden, erzählen, zuhören, begreifen, wie andere die Zeit erleben, die Welt sehen. Was kann bleiben, was kann weg. Das können die Generationen auch gemeinsam entscheiden.

Was wünsche ich mir? Dass ich weiter arbeiten kann. Dass ich mir da bin. Und also auch den anderen.

Ich wünsche aber auch, dass NRW in der Lage sein wird, doch noch all die Daten zu den Missbrauchsfällen auszulesen, zu verwerten und es nicht dabei belässt, dass das Bundesland NRW die Technik nicht dafür hat.

Was tue ich? Zusammen mit Monika Detering schreibe ich an einem Kriminalroman. Dore Vermeulen und Jacob Witowski ermitteln im Münsterland. Wir kommen voran. Und es ist spannend. Auch für einen selbst.

Und: Es gibt ja immer ein nächstes Buch. Hier liegen Gedichte. Noch wenige aufgeschrieben, aber viele in mir drin. Als Schatten, Bilder, Töne. Als veränderte Herzschläge. Auch das Projekt Fluchtlinien muss noch weiter geschrieben werden. Überall liegen Zettel, Kritzeleien, Material. Vieles passiert Revue, halbe Sätze werden gesammelt. Ich lese immer viel, schaue wie schreiben andere, wie bauen sie ihre Sätze. Manchmal kommt auch Mutlosigkeit, dann wieder Tollkühnheit. Ich kann das. Irgendwann mündet alles in eine erst aufgeregte, dann ruhige Arbeit.

Jay