J. Monika Walther
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Was mache ich heute?

März 2023

Che farò senza Euridice, che farò senza il mio ben’, dove andrò...

singt Orpheus.

Die Welt ist nicht über Nacht in diesen Zustand geraten. Alles führt von dem einen zum anderen, ob es die Erfindung der Demokratie in Griechenland ist, die endlosen Völkerwandungen und Eroberungen, die ewigen Kriege in Europa, die bis zum heutigen Tag in andere Länder getragen werden (kaum wird Amerika entdeckt, wurden nicht nur die Einwohner niedergemacht, sondern alle europäischen Konflikte auch in Amerika ausgekämpft), oder ob es die Ausbeutung von Menschen und Natur über die Jahrhunderte ist.

Inzwischen und jetzt ist unklar, wie aus der unersättlichen Gier, dem Raubbau mit allem und dem zunehmenden Vernichtungswillen derer, die imperial herrschen und die anderen nicht am Leben lassen wollen (und wir sind ja alle einerseits identisch und gleichzeitig die anderen, die uns Fremden, die, die wir in der Veränderung werden), eine neue Balance in Freiheit, Gleichberechtigung und Frieden entstehen soll. Ein neues Wirtschaften, dass mehr als ein Überleben ist. Oder das Schlagen von Propagandaschlachten, die wir im Guten wie im Bösen nicht gewinnen können, in denen wir uns und einander täuschen.

Der Dreißigjährige Krieg und die Verhandlungen zum Westfälischen Frieden in Münster und Osnabrück zeigen, wie schwierig es wird, wenn eine Epoche zu Ende geht. Wenn wir noch genauer in die Vergangenheit schauen, dann erfahren wir auch, dass die deutschen Lande eben keine Geschichte der Grande Nation oder wie Great Britain, wie Spanien, nicht einmal wie Polen oder Österreich haben, sondern bis heute ein Staat der pragmatischen und mühseligen Bündnisse ist. Und meist zu falschen Zeit mit den falschen Partnern einen Krieg begann, nie begreifend, dass Deutschland in der Mitte von Europa liegt. Die Generäle waren nie Napoleones oder Löwenherze, sondern verzettelten sich in nicht zu gewinnenden Kriegen in Ost und West, Süd und Nord. Ein Scharmützel und die Soldaten kämpften gegen Russen, Polen, Ukrainer, Schweden und Dänen, Österreicher, Italiener.

Aber zurück zu Euridice und Orpheus. Für dieses Griechenland war der Norden Europas das kalte Reich der Barbaren. ‚Thule sei ein weites Land‘, das aber so weit im Norden lag, dass das Meer erstarrt war und über dem Land ein ‚schwebendes Band des Alls lag‘. Dorthin wollte niemand aus dem Süden einen Fuß setzen. Bekannt war den Griechinnen und Forschenden, das Mittelmeer mit seinen Ländern, der Nahe Osten und Nordafrika, aber niemand traute sich in den Norden. Außer Pytheas von Massalla, der damals als Lügner galt und heute als Forscher anerkannt ist.

Dreihundert Jahre vor Christi überquerte er das Nordmeer, vermaß Great Britain, fuhr weiter bis in die Nähe des Polarkreises und betrat ein Land, dass er Thule nannte. Eine blühende Landschaft am Rand der Welt. Damals hatte die Welt ja noch Ränder. Pytheas schrieb ein Buch: Über den Ozean, von dem nur Zitate erhalten sind. Für die Griechen blieb der Norden das Ende der Welt. Hinter dem Ende gab es für sie nur noch ein riesiges Meer.

Pytheas war in Marseille geboren, damals eine reiche griechische Kolonie. Von dort aus, war der Blick auf die unbekannte Welt anders, als in Griechenland selbst. In Marseille gab es Handel mit den nördlichen Nachbarn, gab es Waren aus aller Welt, also auch der noch unbekannten. Pytheas entdeckte Ebbe und Flut. Sechs Tage segelte er von Great Britain, damals Albion genannt, weiter, Nach sechs Tagen erreichte er ein Land, in dem die Bienen summten und Früchte in Hülle und Fülle gediehen.

Das geheimnisvolle Thule wurde zum Sehnsuchtsort verklärt, in der Neuzeit vor allem von Deutschland und von den Nationalsozialisten. Aber wo liegt dieses Land?

Pytheas schreibt: ‚Die Barbaren zeigten uns, wo sich die Sonne schlafen legt. Denn es traf zu, dass in diesen Gegenden die Nacht nur kurz ist, für die zwei, für die anderen drei Stunden, sodass die Sonne nach ihrem Untergang nach einer kurzen Zwischenzeit gleich wieder aufgeht.‘ Die Forschung fand heraus, dass Thule in der norwegischen Bucht von Trondheim lag. Die Heimfahrt ist nur schwer zu rekonstruieren. Helgoland hat Pytheas gesehen. Dann war er wieder in Marseille und schrieb über seine Reise nach Thule. Die Bruchstücke der antiken Überlieferung ermöglichten, dass Thule schon in römischer Zeit und im Mittelalter eine mythische Bedeutung erhielt, die eher an Avalon, Atlantis oder Camelot als an die nüchterne pytheische Geografie erinnert. In dieser Tradition taucht „Thule“ als fiktiver Sehnsuchtsort in Kunstwerken auf. In Goethes Faust findet sich das Lied ‚Der König in Thule‘. Von Vladimir Nabokovs Romanfragment Solus Rex ist ein Kapitel Ultima Thule erhalten. Die Comic-Figur Prinz Eisenherz wird als Sohn des Königs von Thule beschrieben. Ob Euridice oder Orpheus einen Sehnsuchtsort hatten, wissen wir nicht. Euridice wechselte in den Hades, absichtlich und gerne oder weil Orpheus sich bewusst umdrehte, damit er die Frau endlich los wurde und anschließend sich vor Sehnsucht singend verzehren konnte, wissen wir auch nicht. Wie so vieles.

Wonach sehnen wir uns? Dass wir in Deutschland unsere Ruhe haben? Dass unser Urlaub an der türkischen Riviera oder auf Malle möglich bleibt? Dass alles wieder wie früher oder gleich wie später wird, wenn alle Umbrüche überstanden sind. Wie soll dieses Später, nach der Bewältigung aller notwendigen Veränderungen, aussehen? Wieder wie das Früher, was nicht möglich nicht ist, gleich wie sehr wir es uns wünschen. Oder sind wir bereit, gleich wie alt oder jung wir sind, von einem Aufbruch und der persönlichen und gesellschaftlichen Veränderung wenigstens zu träumen: eine Welt ohne Kapitalismus oder Sozialismus und Ausbeutung, mit Arbeit, aber ohne den Zwang zu irgendeinem Wachstum und lohnenden Renditen, mit einer Natur, die wir nicht zerstören, sondern hegen. Nein, zurück ins Paradies geht auch nicht. Wir werden uns sehnen müssen und denken, klug sein und begeistert von anderen Menschen. Es wäre der schwierigste Schritt in der Geschichte der Menschheit, wenn wir aufhörten uns gegenseitig aus Gründen fertig zu machen und also auch keine Kriege führten, weder imperiale noch übern Gartenzaun. Damit wären wir wieder bei der Poetik des Suchens, die äußerste Radikalität zu sich selbst bedeutet, die Klarheit in der Phantasie. Die Zukunft kommt, gleich ob und wie wir die Vergangenheit begriffen haben und wie weit wir mit der Poetik des Suchens sind.

Was tue ich?

Im Augenblick mich in vielen Umständen und Zeugs verzetteln, aber nach diesem Che faro beginne ich mit dem Tagebuch der unmöglichen Reisen.

Was wünsche ich mir: Dasselbe wie das letzte Mal: Dass der Kampf gegen die Diktatoren, Autokraten und Faschisten gelingt. So viele tapfere Frauen und Männer wagen ihr Leben für Freiheit, Demokratie, Menschenrechte. Mit Freiheit meine ich Grundrechte, nicht dieses egoistische Geschrei um Wohlstand und Unverstand. Dass Europa zusammensteht, die Unterschiede respektiert, die Traditionen der Kulturen, und zu einer Stimme gegen Unrecht, Faschismus und die Vernichtung der Erde findet.

Ich wünsche mir aber auch, dass die vielen Menschen, die klar und geduldig denken und arbeiten, die helfen und für unsere Demokratie, ihre Nachbarn einstehen, lauter werden. Denn der Lärm, der Lügnerinnen und Schreihälse von rechts bis nationalsozialistisch faschistisch wird immer lauter, immer verworrener und ohne ein Körnchen Wahrheit und Gefühl. Nie wieder, daum müssen wir jeden Tag uns kümmern.

Und:

Irgendwann

gehe ich vor die Tür und schreie.
Dass die Krähen auffliegen,
dass die Schmetterlinge singen,
dass die Störche in den Wiesen lachen.
Irgendwann schreie ich alle wach
keine Worte mehr nur Wut die Tränen
die Trauer der Familie
einen Stein auf alle Gräber -

Irgendwann
steige ich in einen Zug ohne den Traum,
ich muss eine Scheibe Brot in tausend Würfel teilen.
Ich muss die Hand meiner Mutter halten.
Ich darf diese Hand nicht loslassen.
Ich muss die Hand meine Mutter darf nicht.
Sie darf nicht aus dem Waggon fallen.
Irgendwann hält der Zug. Geschrei Schläge.
Ravensbrück -

Irgendwann
steige ich in einen Zug
und träume das kleine Mädchen
zwischen den Trümmern in Leipzig
Hamburg und am Bodensee. Krieg.
Ich sitze im Zug und höre die Gleise.
Das weiße Rauschen der Vergangenheit.
Irgendwann fahre ich in die Zukunft –

Vielleicht bin ich dann tot
stehe auf dem Michel und
schaue über die Trümmer.
Irgendwann ist der Krieg
vorbei für das kleine Mädchen.
Irgendwann warte ich nicht mehr -

(aus ‚Nachtzüge – Gedichte und gefundene Zettel, 2022)

Jay