J. Monika Walther
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Was mache ich heute?

Juni 2004

Stalingrad und der D-Day – an beiden Orten kämpften die Deutschen verzweifelt und auch trotzig gegen ihre eigene Befreiung vom Faschismus, kämpften gegen die Niederlage, gegen den Schmerz, gegen Europa und die halbe Welt. Die ausgewanderten Onkels erzählten mir, dem Kind auf Besuch, bei Toast, Scones und Hühnersandwichs von ihren Fluchten nach England, Kanada, von Widerstand und der Landung in der Normandie. Die nach Deutschland Ost zurückkommenden Tanten warfen das Wort Stalingrad auf den Tisch, in die Suppenteller: Ein Unglück für die Soldaten, aber ein Glück für unser Leben. Eine Geburtsstunde, eine Hoffnung.

Außer in der Welt meiner Familie kamen der D-Day und das Erzählen über die Alliierten nicht vor, auch später nicht, nicht in der DDR, deren Politiker so taten als sei sie ausschließlich von den Sowjetrussen befreit worden, nicht in der BRD, nicht in der Schule, nicht in den Medien, nicht bei den Linken, zu denen ich gehörte: wir gingen gegen Vietnam und amerikanische Kriegsverbrechen auf die Strasse; wie die meisten Deutschen sagten wir, sagte ich: Ami go home.

Die deutsche faschistische Armee hatte notgedrungen kapituliert - und alles hätte anders werden können, wenn dieser oder jener General sich hätte durchsetzen können oder Hitler nicht so faul und närrisch gewesen wäre. Oder der erste Weltkrieg gewonnen worden wäre. Oder die Deutschen nicht als Unschuldslämmer von Hitler ins Verderben geführt worden wäre. Aber so war Deutschland von Fremden besetzt worden und es gab, außer vielleicht bei den Westberlinern, keine Freude an den Alliierten: die Franzosen und Russen schleppten alles, selbst Eisenbahnschienen und ganze Betriebswerke, zu sich nach Hause; die Amis konnten sich nicht benehmen, wie selbst meine Mutter naserümpfend immer wieder feststellte, von schwarzen Negern sollten wir Kinder keine Schokolade uns schenken lassen; und nur die Briten genossen eine wenig Achtung. Aber diese fremden Soldaten, die neue Negermusik, die neuen Sitten, das blieb den meisten nach zwölf Jahren Inzucht sehr fremd, ängstigte. Ich Kind liebte die steifen Mützen und schrägen Baretts der französischen Soldaten und die Amerikahäuser mit ihren Schallplatten und Bücher. Davon konnte ich nicht genug nach Hause schleppen. Ich Kind liebte auch die durch die Strassen ratternden Panzer, die Ruinen, aber nicht die neuen Aufmärsche, diese nuscheligen sächsischen Staatsreden vom Aufbau des Sozialismus. Ich Kind mochte auch russische Soldaten und später die Ehrenmale mit den roten Sternen.

Den arisch-deutschen toten Soldaten - und dem Gräuel von Stalingrad wurde verklärend auf deutschen Dorfplätzen und Kriegshainen im Westen mit einem in Eisen oder Blei gegossenem Spruch das ehrende Gedenken bewahrt. Die meisten deutschen Linken erklärten distanziert, dass der Zweite Weltkrieg den deutschen Faschismus beendete. Keine Gefühle. Das irritiert mich bis heute.

Aber wahr ist, dass die kommunistische Linke die russische Armee nur aus ideologischen Gründen pries, dass die Sozialdemokratie weder die Rote Armee noch die Alliierten mochte und ihre Ressentiments gegen die USA und den Westen fast nahtlos bis in die Gegenwart lebte – und dass es Adenauer war, von Kurt Schumacher als „Kanzler der Alliierten“ beschimpft, der die Wiedervereinigung über die Trennung anstrebte, wenigstens verbal, 1951. Und: für die Grünen, für einen kleinen Teil meiner Generation, wurde im Verlauf der Achtziger Jahre dann doch noch der D-Day wichtig, geriet in den Blick: als Beginn der Befreiung des Teils der Welt, der von den Faschisten und Nazis besetzt war, als Geburtstunde für ein neues demokratisches Europa. Die Rechte hasst bis heute alles, wofür der D-Day steht.

Zum D-Day 2004 – ist für Kanzler Schröder der Zweite Weltkrieg endgültig vorbei, das sagt er und ist zusammen mit Präsident Jacques Chirac ein strahlender Gewinner des D-Days 2004. Es geht um die selbstsüchtige Darstellung eines von Frankreich und Deutschland dominierten Europas, um eine Entfernung von Amerika und den Briten. Weniger um die Veteranen, um diese alten Männer, von denen im Schnitt täglich Tausend sterben, die vor sechzig Jahren durch ihr Handeln den Untergang des nationalsozialistischen Terrorregimes eingeleitet haben. Was für ein Glück. Und was für ein elender Kampf um jede Brücke, jedes Haus – bis zur erzwungenen Kapitulation.

Was tue ich heute – und morgen? Die Steuer und die Bürokratie will bedient werden. Viel Kram, der wird immer mehr. Und dann: werde ich schreiben – ohne zu wissen, wer mich bezahlt. Gedichte und über die beiden Dichterinnen Droste und Dickinson.

J.