J. Monika Walther
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Was mache ich heute?

Januar 2020

Che farò senza Euridice, che farò senza il mio ben’, dove andrò...

singt Orpheus.

Ob Euridice und Orpheus zusammen oder einzeln am Ende des Mondzyklus mit Rückblicken und Planungen für das nächste Jahr beschäftigt waren? Mit Eilmeldungen vielleicht schon. Die glutrote Sonne geht im Mittelmeer unter. Der Wein auf Korfu ist sauer. Die Göttinnen sind unzufrieden mit den Göttern. Zoff im Hause Zeus. Unterwelt kämpft gegen die räuberische Oberwelt. Die Mittelschicht der Göttinnen durch männliche Intrigen um Geld und Macht gebracht. Die Oberen gegen das Volk der besorgten Griechinnen und Wutbürger.

Vielleicht besprachen die beiden auch ihre guten Vorsätze für das kommende Jahr. Orpheus schwört ewige Liebe, will sich mehr an der Hausarbeit beteiligen und weniger trinken. Euridice verspricht sich selbst, endlich auf dem Markt eine Stelle als Helferin anzunehmen und weniger den Schwüren der Götter zu glauben. Gemeinsam beschließen sie, in eine größere Hütte zu ziehen. Orpheus verspricht, seine Gesangsauftritte zu optimieren. Und die ihm als Lohn zugedachten Gaben auch nach Hause zu bringen und nicht anderen Frauen zu schenken.

Einige magische Sekunden vergehen, dann eilt Orpheus aus dem Haus, Euridice räumt auf. Alles bleibt beim Alten. Was die beiden nicht wissen, dass das große Weltgeschehen in der Ober- und Unterwelt weitergeht. Und dass sie beide nicht übersehen, wo ihre Entscheidungen, ihr Handeln wichtig wird. Orpheus singt, Euridice wird von einer Schlange gebissen. Weil ein Mann ihr nachstellt. Das #MeToo im alten Griechenland.

Unübersichtlich ist es bis heute für viele. Sie ärgern sich, sie brennen vor Wut. Manche folgen denen, die die einfachsten Lösungen bejubeln oder irgendwem die Schuld an allem aufladen. Manche schreien ungebremst ihren Hass auf alles und jeden in die Welt. Und wieder andere leugnen die Fakten und erfinden sich ihre eigene Welt. In der lässt es sich dann eine Weile aushalten. Medien streuen noch Salz in die Wunden der Menschen und konstruieren Vergleiche: die neuen zwanziger Jahre und die des letzten Jahrhunderts. Von Vulkantänzen ist die Rede. Wobei übersehen wird, dass auch damals die Menschen eine Wahl hatten.

Oder es werden Gegensätze feinsinnig herausgearbeitet: Da kauft die Omasau billiges Fleisch und das Babyboomerschwein fährt SUV, während die jungen Menschen sich um Klima und Zukunft kümmern. Sie verkörpern das einundzwanzigste Jahrhundert, die Alten stecken mit Herz und Sinnen in den vergangenen Zeiten, wollen, dass sich nichts ändert. Sie haben angeblich Angst um das, was sie erarbeiteten in ihrem Leben. Um Besitz und Wohlstand. Vergessen wird, dass diese Oma- und Opageneration gegen die Stationierung von Raketen demonstrierte, gegen Atomkraftwerke, gegen Faschisten wie Kiesinger, gegen den Krieg in Vietnam, eine neue Partei und andere fortschrittliche Organisationen gründeten, sich für neue Lehrformen und mehr Toleranz einsetzten. Dass Omasäue und Opaschweine Kriegs- oder Trümmerkinder waren. Und ja: Sie haben immer funktioniert, da blieb viel Seele auf der Strecke. Die Eltern waren Opfer oder Täter im Faschismus. Um Fluchten, Hunger, Kälte ging es. Um den Verlust von Heimat. Die Eltern waren in Kälte und Schweigen versunken.

Irgendwo sind da immer die Wahrheitskörnchen, aber mehr auch nicht. Denn dass Leben unentwegt Veränderungen bedeutet, weiß jede und jeder. Zwei Weltkriege, Millionen toter Menschen, Kolonisation, all die anderen Kriege, die Fluchten. Ausbeutung, Versklavung. Und immer wieder neue Kriege, neue Diktatoren. Staaten ohne Demokratie. Immer wieder gierige Menschen. Dumme und Bösartige, die auch mit Gesetzen kaum zu bändigen sind. Siehe Mister Trump, Herr Erdogan und viele andere. Geschweige denn mit Vernunft. Kein organisiertes Zusammenleben in Sicht, das auf Gleichberechtigung und Achtung voreinander beruht, aber immerhin gibt es liberale Demokratien, die sich in Zivilisation, Aufklärung und Bürgerrechten üben. Für die lohnt es einzustehen und nur sie ermöglichen die Freiheit zu forschen, zu wissen. Zu diskutieren und die eigene Wahl zu treffen: Wie soll es weitergehen?

„Kein schöner Land in dieser Zeit,
als hier das unsre weit und breit,
wo wir uns finden
wohl unter Linden
zur Abendzeit, Abendzeit.“

Dieses Lied mit allen Strophen sang ich als Kind in Friedrichshafen mit. In Tübingen vor der Stiftskirche zu St. Georg und in Heilbronn auf dem Marktplatz am Ende des Weinfestes. Kinder wie Erwachsene waren von Andacht ergriffen. In Heilbronn folgte oft noch das Lied „Der Mond ist aufgegangen“. Für die Zeit des Singens waren alle zu Frieden und Freundlichkeit, sogar zur Nachsicht bereit. Diese Stimmung hielt auch noch auf dem Nachhauseweg. Fast wie Weihnachten nach den Gottesdiensten. Alle waren einander behilflich. Ganz sicher dachten weder in Friedrichshafen nicht alle an das gleiche Land. Viele vermissten ja ihre Heimat, aus der sie geflohen waren: Schlesien, Westpreußen, Sachsen, Thüringen. Und noch war ihnen Schwaben fremd.

Durch den Fall der Mauer haben wir wieder ein Stück Heimat zurückbekommen. Ostsee und Erzgebirge. Leipzig und die andere Hälfte von Berlin. Ein großes Land. Wie soll es weiter gehen? Mit Hass und vorwärts in den Faschismus und Krieg? Oder bewahren wir unsere Demokratie und schaffen die nötigen Veränderungen? Quer durch die Generationen und Schichten. Und kümmern uns nicht nur zur Abendzeit um die Nachbarn. Und finden eine mögliche Erzählung für die Zukunft. Es muss nicht alles immer schöner, größer und noch mehr sein.

Was wünsche ich mir?

Dass die Dorfgeschichten, die im Februar erscheinen, gelesen werden. Dass der Kriminalroman „Der Mann ohne Hände“ von Monika Detering und mir bald veröffentlicht wird.

Was tue ich?

Ich übe mich ein bisschen im Lebenschwänzen. Und schreibe nächste Woche an den Fluchtlinien weiter.

Und: ein warmer Winter. Die Rosen hören nicht auf zu blühen. Die Enten hätten es gerne kälter.

Jay