J. Monika Walther
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Was mache ich heute?

Februar 2011

Che farò senza Euridice, che farò senza il mio ben', dove andrò...

Am 31. Mai 1940 wurde von den Nationalsozialisten das Chopin-Denkmal im Warschauer Lazienki-Park gesprengt und die Reste in einer deutschen Gießerei eingeschmolzen.

Das Ziel der deutschen Faschisten war, Polen als Kulturnation auszulöschen. Seit dem Einmarsch der Wehrmacht 1939 wurden polnische Intellektuelle, Wissenschaftler, Offiziere gezielt ermordet. Große Teile des Chopin-Familiennachlasses wurde verbrannt oder gestohlen. Und heute möchte doch fast jeder Klavierschüler hierzulande und die Lehrer allemal Chopin spielen – können. Selbst die Faschisten und Antisemiten. Damals wurden Druck der Noten, Kauf und Verkauf und auch die Aufführung untersagt. Verloren gingen viele Briefe von Liszt, Schumann, von Mendelsohn und Berlioz an Chopin, Briefe Chopins an die Tochter von George Sand oder an seinen Lehrer J. Elsner, vernichtet sind auch Zeichnungen Chopins. Und dem Chopin-Forscher L. Jan Binental gelang zwar noch die Flucht nach Wien, dort wurde er aber 1944 verhaftet und in Auschwitz ermordet.

Polen war ab 1918 – nach 123 Jahren – endlich wieder auf den Landkarten eingezeichnet, als selbständiger Staat. Ein Land, gleich wie oft besetzt und aufgeteilt, reicher Musikkultur, ein europäisches Land mit vielen kulturellen Schätzen, mit vielen Geschichtsspuren. Wer von den Komponisten, Pianisten, Dirigenten nicht vor 1939 starb, musste fliehen, vor den Faschisten, vor den Sowjetkommunisten oder wurde umgebracht, deportiert. Eine ganze Generation polnischer Intellektueller, Wissenschaftler, Musiker verschwand: wie der Geiger und Komponist Roman Padlewski, er starb, als er versuchte 1944 beim Warschauer Aufstand einen deutschen Sprengpanzer zu entschärfen; Szymon Laks überlebte Auschwitz; der Pianist Szpilmann überlebte das Warschauer Ghetto.

Wo liegt Polen? Im Osten. Und am Ende im Osten liegt dann Auschwitz? Und wo liegen Petersburg und Lettland? Ganz da hinten .Also wieder einmal das Bild der Erde als Pizzascheibe. In der Mitte sind wir, früher war die Mitte in Bonn. Heute ist die Mitte immer noch im Westen. Nicht Krakau, Warschau oder gar Riga – und Tunesien, Ägypten, Jordanien, das sind Länder in Afrika, Arabien. Sehr weit weg. Für zehn Tage Urlaub ist eines der tunesischen Hotelquartiere nah, aber Tunesien als Diktatur, als westliches Land, als Staat gegenüber gelegen der spanischen, französischen Küste, am Mittelmeer, ist Afrika. Weit weg.

Interessiert, was dort von jungen Leuten gedacht wird? Oder wie europäisch sich Lettland fühlt? Oder das Estland sich als skandinavisches Land begreift? Dass Weißrussland und die Ukraine nicht irgendwo hinter der Pizzakruste liegen, außerhalb dessen, was wir kennen, sondern immer noch mitten in Europa? Ja, Weißrussland, ein Land mit einem Diktator und Bürgern, die in Freiheit, in einer Demokratie leben wollen. Mitten in Europa, neben Polen, Litauen.

Wenn wir in der Geschichte bis zu den Anfängen der Menschheit zurückgehen, dann ist die Mitte, das Zentrum Ostafrika. Von dort machte sich der moderne Mensch vor 110 000 Jahren auf an die Küsten des Mittelmeeres oder nach neueren Forschungen und Funden bereits vor 125 000 Jahren in den Süden der arabischen Halbinsel, nach Jemen. Unsere Vorfahren könnten ihren Weg Out of Africa über die Arabische Halbinsel genommen haben, und von dort ans Mittelmehr, in den Kaukasus und nach Südostasien gewandert sein. Da sahen die Pizzascheibe und die Mitte also ganz anders aus. Und wenn die Länder rund um das Mittelmeer demokratische Länder sein werden, wenn sie auch außerhalb der All inclusiv Angebote in Freiheit „begehbar“ werden, dann sind das unsere nächsten Nachbarn, ebenso wie die Weißrussen, die Ukrainer: Lemberg liegt nicht am Ende der Welt, sondern mitten in Europa.

Was wünsche ich mir? Dieses Jahr werde ich 66. Nein, das Leben muss da nicht anfangen – noch einmal. Manches könnte endlich einmal aufhören: Ärger mit Maßnahmen, Anordnungen, Erlassen, Bescheiden irgendwelcher Behörden. Hinter jedem Schreiben eine kleine versteckte Drohung, ob von inkompetenten Stadtwerken, von Finanzämtern, von Bauordnungsbehörden – sie haben das sagen, diese Beamten und öffentlichen Angestellten. Sie haben immer Recht und machen einem immer Arbeit. Und immer hat unsereins etwas zu belegen, zu beweisen.

Ich wünsche mir ein bisschen Geld, Zeit, Zeit zu schreiben. Den Blick in die Cevennen oder über den Rathausplatz in Krakau. Oder übers Wasser.

Und noch einmal den Wunsch: dass ein Zug mich manchmal aus der Zeit fährt...

Was tue ich heute: Möglichst viel erledigen, um Schreiben zu können.

Und: Kann es sein, dass es wirklich und wahrhaftig keine gute Idee ist, Leben auf zu schieben? Das Vergangene drehen und wenden, das Heute nicht leben und keine Zukunft haben, weil Heute Gestern war. Das kann sein.

Also: heute ist ein eiskalter grauer Tag. Und der Flieder hat seine Knospen angesetzt, die Schneeglöckchen blühen, das Gras richtet sich langsam auf und die Enten haben ihre bunten satten Farben wieder. Von den unzähligen Hügeln der Maulwürfe wird jetzt geschwiegen.

Jay