J. Monika Walther
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Was mache ich heute?

November 2020

Che farò senza Euridice, che farò senza il mio ben’, dove andrò...

singt Orpheus.

Wie Euridice und Orpheus das Jahresende verbrachten? Niemand weiß es. So einfach war das damals noch nicht mit dem Kalender und den Monaten. Jede Poleis (Stadt, Kreis) benutzte einen anderen Kalender. Aber allen lag ein Zyklus von zwölf Monaten zugrunde (Lunisolarkalender). Zwölf Mondmonate ergaben ein Jahr. Und da diese Monate nicht dem Sonnenjahr entsprachen, wurden ab und an Monate eingeschaltet.

Allen Kalendern gemeinsam war auch, dass das Bürgerliche Jahr und das Festjahr zusammenfielen. Bis zum Hellenismus wurden die Monate nach einem in ihnen stattfindenden religiösen Fest benannt, das in der Regel nach einer Eigenschaft der verehrten Gottheit hieß. Allerdings konnte nicht zu jedem Monat ein entsprechendes Fest belegt werden, womit auch die Benennung nach dem Epitheton einer Gottheit ohne ein in diesem Monat stattfindenden Fest möglich war. Pragmatisch kompliziert. Oder auch andersherum. Denn die Benennung der Monate unterschied sich von Poleis zu Poleis, nur einige Namen waren in den verschiedenen griechischen Dialekten oder regionalen Kultgemeinschaften identisch. Grenzstädte und andere Orte, die viel kulturellen Austausch mit anderen Regionen pflegten, übernahmen gelegentlich Monatsnamen aus anderen Kalendern; Kolonien benutzten in der Regel den Kalender der Mutterstadt oder eine Abwandlung davon. Kurzum: es gab eine Vielzahl an Kalendern, Benennungen und dass es unzählige Göttinnen und Nymphen und Halbgötter gab, wissen wir ja.

Heute glauben die Griechen überwiegend nicht protestantisch, nicht muslimisch und nicht katholisch: das orthodoxe Christentum ist Staatsreligion. „Orthodox“ meint die „richtige Verehrung“. Ursprünglich gab es keinen Unterschied zwischen der katholischen und der orthodoxen Kirche. Doch über Jahrhunderte wurde darüber gestritten, wie man Gott ehren soll. Die Kirchen trennten sich im Jahr 1054 voneinander: Im Westen Europas blieb die Katholische Kirche und der Papst in Rom. Im Osten ist der Patriarch von Konstantinopel das Oberhaupt. Natürlich ging es in Wahrheit nicht um das Kreuzzeichen, die Sprache, sondern um die Macht zweier Systeme: Rom gegen das byzantinische Reich. Der Westen gegen den Osten. Auch damals schon.

Als im Jahr 1054 ein römischer Kardinal Humbert den Patriarchen als Ketzer beschimpfte und aus der Kirche ausschloss, war die Trennung unumkehrbar. Michael Kerullarios schloss nach dem Treffen, den Kardinal und seine Gefolgschaft aus seiner Kirche aus. 1204 fielen katholische Kreuzritter in Konstantinopel ein und verwüsteten die Stadt. Als die islamischen Osmanen 1453 die Stadt Konstantinopel angriffen und schließlich einnahmen, kam keine Hilfe von den römischen Glaubensbrüdern. Erst 1965 hoben der katholische Papst und der orthodoxe Patriarch ihre gegenseitigen Kirchenausschlüsse auf. Inzwischen unterscheiden sich die beiden Kirchensysteme in vielen Dingen. Und da sie auch verschiedene Kalender benutzen, feiern die Griechen vom 24. Dezember bis zum 6. Januar.

Euridice und Orpheus wussten von alldem noch nichts. Sie hatten ihre Sorgen, oft genug verursacht durch Götter und deren Machtspiele. Aber vielleicht kannten die beiden schon die Sitte, wenn gefeiert wird, ein Boot als Symbol zu schmücken. Vielleicht kosteten sie schon Dolmades, Tzatziki, Moussaka. Einen gefüllten Truthahn werden sie noch nicht gegessen haben, aber sicher haben sie schon Melomakarona, ein eiförmiges griechisches Dessert, das hauptsächlich aus Mehl, Olivenöl und Honig hergestellt wird und Kourabiédes, Butterplätzchen mit gehackten Nüssen und mit Puderzucker bestreut, geschmeckt. In Variationen.

Ich war in vielen Ländern, in Griechenland nie, immer drumherum. Jetzt kommt es mir näher durch unsere wunderbare Dorfärztin, auch die Düfte, das Essen, das so wenig zu tun hat mit dem, was wir vor vierzig, fünfzig Jahren verschlungen haben, weil das Regime der Obristen, die Diktatur in Griechenland besiegt war endlich, weil Mikis Theodorakis sang, weil wir Nana Mouskouri, Georges Moustaki, Petros Pandis, Irene Papas hörten, weil wir so froh waren, dass Griechenland frei war, so schlicht dachten wir. So glücklich waren wir. Wir tanzten, weil Willy Brandt Kanzler wurde. Wir hatten die Hoffnung, so wie es jetzt Greta und viele andere auf der Welt, in vielen Ländern, haben, wir können uns nützlich machen auf dieser Erde. Aber so einfach ist es ja nicht.

Was wünsche ich mir?

Ein rumpeliges Jahr war 2020. Begann froh. Mit vielen Reiseplänen. Mit endlich gefundener Verwandtschaft in den USA: Hella und Scott und Cynthia McVay – Cousine Hella aus Berlin. Das Buch ‚Dorf – Milch und Honig sind fort‘ erschien, viele Veranstaltungen waren geplant. Der Verlag druckte sogar Plakate. Aber es ging mit einer unbekannten Pandemie weiter. Mit einer Klage gegen das Krähen des Hahnes von einer Zugezogenen, die sich in Streit mit allen ihren Nachbarn verwickelt. Statt eines großen Festes zu den runden Geburtstagen feierten wir im Garten an drei Tischen. Das zweite Buch, der Kriminalroman (zusammen mit Monika Detering) ‚Der Mann ohne Hände‘ erschien. Die restlichen Lesungen fielen aus. Für eine gibt es stattdessen einen schönen Film (Von Matthias Engels) unterstützt vom Literarisches Colloquium Berlin:

Was tue ich?

An dem neuen Gedichtband ‚Nachtzüge – Gedichte und verlorene Zettel‘ arbeiten. Mich unbändig freuen, dass es gleich eine dreifache Zusammenarbeit (Fotografien für den Gedichtband und ein Lesebuch) mit Iris Noelle-Hornkamp gibt. Geplant sind auch Veranstaltungen in Landsynagogen. Und ja, Sorgen in der Familie, ab und an auch mal Bangheit wie das alles so weitergeht. Im Kleinen, aber eben auch im Großen, mit all den Kriegen, Diktaturen, Faschisten, Hunger und Elend. Also immer wieder die Frage: was kann ich tun? Jenseits von Moral, nur ganz einfach: was kann ich an Hilfe wie erbringen. An konkreter Solidarität. Das war ja mal in meiner Jugend das Zauberwort.

Und: Allen wünsche ich ein frohes neues Jahr. Mit Hoffnung, Träumen, Zuneigung. Freude. Und wenn es denn ginge – ohne all die kleinkarierte Freudlosigkeit, den Hass. Große Gefühle sind ein Wunder, aber nicht im Negativen, nicht wenn sie aufwallen, weil ein Hahn kräht, ein anderer Mensch ein sich eigener Nächster ist. Vielleicht sollten wir alle mal Rosa Luxemburg lesen. Ermordet ‚als Hinrichtung von nationalem Interesse‘ durch Polizeibeamte.

„Ich habe Lust glücklich zu sein und bin bereit, Tag für Tag um mein Portiönchen Eigensinn zu feilschen“, schrieb Rosa Luxemburg an ihren Geliebten, der analysierte und Baupläne zeichnete. Nicht für Rosa ein Haus, für alle Menschen ein Dach. ‚Ach Jogisches. Hast keine Nachtigallen gehört.‘ Die Menge der Missdeutungen verkleinern die Augenblicke. Auch die Verzettelungen und kalten Herzen. Aber Geschichten gibt es immer zu erzählen, meine, deine – auch 2021. Mein Broterwerb, mein Leben.

Jay