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Was mache ich heute?
Oktober 2024
Che farò senza Euridice, che farò senza il mio ben’, dove andrò...
singt Orpheus.
Wie geht das Lieben, wenn der Mensch fehlt, weil die, die liebt, geliebt hat, lieben wird und bisweilen weniger eins mit sich ist, als sie es möchte, nicht lieben darf, weil die andere nicht geliebt werden will, weil sie mit sich völlig eins allein ist. Kein Gleichgewicht zwischen lieben und sich lieben lassen, zwischen zeigen und verbergen, Hingabe und Rückzug, Schroffheit und Zartheit. Herz über Kopf, Zahl beiseite. Orpheus dreht sich um, Eurydike stirbt. Er ist frei. So einfach kann es sein, aber in der Legende hat ihn kein Glück mehr erreicht. Und wollen alle den Mord begehen, um frei zu sein, um sich das Lieben zu ersparen.
Wie geht das Lieben, wenn alle sich nur verirren können in einer Landschaft voller Nebel und keine den Mut hat, den Blick zu heben, klar in die Augen der anderen zu sehen und zu sagen; Ich liebe dich. Als dürfte es das Kennenlernen nicht geben. Als gäbe es Grenzen. Als dürfte die große weite Landschaft der Liebenden nicht betreten werden. Als müsste sich jede verirren, damit niemand jemanden kennen- und lieben lernt.
„Ich gehe mich jetzt verirren“, schrieb Michael Lentz in der Offenen Unruh. Hundert Liebesgedichte.
„Halte mich fest mit beiden Armen, um nicht zu zerbrechen. Wäre ich endlich so alt, dass das Herz geradeaus fühlt, dass ich mich tödlich tief verpflichten kann, ohne Schmerz, dass ich verschenke ohne zugesichert zu sein.“ Wie schreibt Martha Gellhorn, dieser Mensch voller Widersprüche, diese Zeitenbeobachterin, Schriftstellerin, Kriegsberichterstatterin: „Ich habe das alles gesehen, betrunken und nüchtern, und so weiter …. Ich will ein Leben, das zum Platzen aufregend ist, leidenschaftlich und heftig und voller Lachen und laut und lustig wie die entfesselte Hölle, und die restliche Zeit will ich die ganze verdammte Bagage verdammt noch mal vom Hals haben, will allein sein, meiner Arbeit nachgehen und meinen Gedanken und bitte schön keinen Besuch haben.“ Wenn es so einfach wäre. Es ist ihr nie gelungen. Leidenschaftlich und voller Lachen und voller Arbeit. Lachen. Mit jemanden Lachen. Dazu braucht es die Bagage, den Blick der anderen, die Liebe, das Verstehen.
Was schreibt Martha Gellhorn, die sich einsam fühlte bei so vielen Lieben, Ehen, Liebschaften, Leidenschaften, Freunden über die Ehe: „Zwei Menschen leben zusammen und wissen, sie sind zu bestimmten Zeiten zusammen in irgendwelchen vier Wänden. Und nach und nach werden sie füreinander der gemeinsame Nenner: Sie kommen wortlos überein, Visionen und Leidenschaft und das komplizierte persönliche Zeug fahrenzulassen: Sie finden eine gemeinsame Grundlage, die grün ist und weich, und auf der bleiben sie. Dabei können sie ziemlich schrullige, feurige Zeitgenossen sein…. Aber sie sind zwei Menschen, die beschlossen, alle Kanten abzuschleifen, die Stimme zu senken und zu leben. In diesem Moment der Zweisamkeit können sie so wild und frei sein, wie sie wirklich sind; wie sie innen sind, wo sie nie von einer organisierten Gesellschaft gehört haben und der heiteren, rücksichtsvollen, praktischen Institution der Ehe.“ So war es dann aber doch nicht zwischen dem Herrn Hemingway und der Frau Gellhorn Hemingway. So nicht. So war es gar nicht.
Da versuchte sie es 1954 anders: „… Dann ist da noch Tom. Ach. Es ist wohl das Beste, ihn zu heiraten - Ich liebe ihn nicht, aber meine Lieben waren immer ein Verhängnis, während ich bei Freunden einen guten Geschmack habe, und er ist ein Freund. Ich glaube, es würde das Leben erleichtern. Im Augenblick will ich genau das; Erleichterung, einfach weniger verdammten Ärger… Ich bin zu alt für das Leben, das ich geliebt habe und zu handhaben wusste; ich kann jetzt genauso gut meine wenigen Vorzüge und vielen Defizite mit Tom zusammenwerfen. …. Aber höllisch ist es, alles in allem einfach höllisch. … Was ist aus mir geworden? … Ich fühle mich zehn Jahre älter als Gott. Immer Deine M.“ Sie heirateten, gaben sich Mühe und Tom hatte nebenbei eine lange Jahre dauernde Affäre. Martha Gellhorn ging und schrieb über sich, dass sie die schlechteste Liebhaberin auf allen fünf Kontinenten sei.
„Hier bin ich, wo bist du, sag es mir? Ich habe mir das Trinken wieder angewöhnt, um ein wenig zuzuhören und mit Menschen besser reden zu können. So wenige reden wahrhaftig. Die meisten lügen. Und wer übernimmt die Verantwortung? Reden kostet so viel Mühe. Und lohnt sie?“
Martha Gellhorn in einem Brief von 1983: „Erlaube mir, als einer, die selbige bereits durchlaufen hat, Dich vor den Sechzigern zu warnen. Ein schwieriges Alter. Weder Fisch noch Fleisch. Ich vertrete die These, dass es sich um die zweite Pubertät handelt, die wie die erste je nach Temperament anhält. Die erste Pubertät ist ein Übergang zum Erwachsensein; die zweite zum Alter. Ich habe meine sechziger mit destruktiver Ruhelosigkeit verbracht, mit dem Bemühen, mich irgendwie in meinem Leben und meiner Haut einzurichten. Sehr dumm. Ich hoffe, du vermeidest das.“
„Angst, Verlangen und Hoffnung versetzen uns in die Zukunft und nehmen das Bewusstsein für Gegenwart, in der wir dann versagen, weil wir in die Zukunft wollen. Also ist Einsamkeit hinzunehmen, wie der Boden unter den eigenen Füßen. Lesen und schreiben hilft, dann bin ich nicht da, schließe mich anderen Leben und Suchen an. Die Destruktion vermeiden. Wenn Sterne schwarze Löcher sind, was sind dann die schwarzen Löcher des Universums? Alles Seelen?“
Vor jedem Liebesanfang existiert die Sehnsucht sich und das Leben zu verändern. Wie groß ist der Mut? Wozu reichen Mut und Sehnsucht und all die Gefühle? Vor jedem Abschied existiert das Ende. Albern dann die Auftritte und Abtritte, die waren ja schon zehnmal geprobt. Und gewollt.
Und was noch: Wie kann denn der Mensch leben, wenn er keinen hat, ohne den er nicht leben kann?
In ‚Goldbroiler oder die Beschreibung einer Schlacht‘, der Roman erzählt von der Zeit an der Ostseeküste nach der Wende. Warnemünde und Rostock, geht es zwischen der Erzählerin und der Köchin so aus: Die Köchin geht in die Küche und brät ein Huhn und deckt oben im Zimmer den Tisch. Sie essen und trinken und schauen einander an. „Wie kann der Mensch leben…“, sagt sie.
„Kann er nicht!“ sagt die Köchin. Die Opern, Romane, Theaterstücke, die Liebesgedichte erzählen davon. Orpheus singt immer noch und Euridice küsst vielleicht wen auch immer. Die Frage nach dem Glück ist nicht identisch mit der Frage nach der Liebe und all die Antworten, die sich finden lassen.
Was wünsche ich mir? Noch ein paar Sonnentage. Von allem anderen sage ich heute nichts.
Was tue ich: Könnte Wahrheit wenigstens das sein: mit sich selber befreundet zu bleiben. Und wenn das Leben an einem Punkt ist, an dem die Wege sich gabeln und kreuzen, wenigstens selbst und persönlich an einem der kleinen runden Tische irgendwo in einer französischen Kleinstadt zu sitzen und Ricard zu trinken, das Wasser, den Café, mit den Einkäufen an der Seite, dem Schinken, den Wachteln, dem Ochsenmaulsalat, Käse, Mirabellen, Langoustines, Gemüse, was der Markt hergab – und friedlich zu bleiben. Sich selbst guten Tag sagen. Natürlich: Che faro? Viele Fragen. Was wäre anders, ginge ich dort, statt da? Außer dass ich mit mir selbst befreundet bleibe. Bekannt wenigstens. Wenigstens bekannt mit sich sein.
Und: Die Kriege breiten sich aus. Der Faschismus breitet sich aus, die Erzählungen vom Leben verändern sich. An manchen Tagen befürchte ich, dass ich den Augenblick verpasse, an dem ich mehr tun muss, als da und dort mich engagieren.
Und ich: schreibe Gedichte und Erzählungen. Denke, fühle und lächle. An manchen Tagen gibt es sogar Glückssekunden.
Jay