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Che Faro - Was mache ich heute?
Dezember 2007
Che farò senza Euridice, che farò senza il mio ben', dove andrò...
Was alles im Leben ist zu durchstehen an Katastrophen, mit zusammengebissenen Zähnen. Ohne Gesang und Höllenspektakel und ohne eine schöne Legende. Ohne jede Bühne. Vielleicht sogar, ohne dass man je anwesend war in der Geschichte des anderen. Also Orfeo ohne Eurydice und sie wiederum ohne einen Orpheus und auch keine andere Eurydice. Sie gibt – ich kürze ab – eine von diesen Heidis auf einem Rheinsberger Ausflugsboot - und serviert lauwarme Brühwürstchen - und er einen singenden Holzfäller im ZDF. Und niemand weiß, wer sie sind und sie selbst vergessen in der Abfolge der vielen Alltage, dass sie Orpheus und Eurydice waren und auf Leben und Tod Liebe miteinander zu tun hatten. Aber wie weiter -
Katastrophen schüchtern ein für die Zukunft, der Blick geht tiefer, man selbst versenkt sich in Ecken und Winkeln und objektiviert die Katastrophe, was sie dann später in ihrer Wirkung erst katastrophal werden lässt. Die Katastrophe geht vorüber, die Erinnerung daran nicht: der 2. Weltkrieg, der deutsche Faschismus, der spanische Faschismus. Die Nazis, die roten Hoffnungen, nein, die Bonzen überall, die Gewinnler, die neuen Denunzianten, die alten Straßenwarte, dieselben schon wieder, erst recht. Die Kinderzeit in der DDR mit einer stummen, abwesenden Mutter, die Kinderzeit in den Besatzungszonen, die vielen Männer ohne Arme, mit leeren Hosenbeinen. Die vielen abwesenden Menschen. Die nicht zu Ende geführten Leben. Die fortwährende Stummheit, die Lügen der Erwachsenen. All die Katastrophen wie im Wohnzimmerschrank versteckte Chanukkaleuchter und das im Mund erstickte Adonai am Freitagabend. Dabei die Hand im Haar des Kindes. Tränen. Und: der fortwährend rückwärtsgewandte Konjunktiv. Der Konjunktiv als Leben. Wenn ich dann alt bin, werde ich immer noch sagen: ich würde um neun Uhr losfahren, und jeder und jede weiß, wenn ich das sage, fahre ich um neun los. Aber damals -
Innenwelten nicht erwünscht. Also immer außen entlang. Auf der Suche nach einem Kanten Brot, nach einem Blick; später dann nach Liebe und Glück. Suche nach einer Ohnmacht, die das Glück ermöglicht oder: auf der Suche nach einer Katastrophe, die alles in Frage stellt und den Riss in der Zeit und den Umständen zulässt, um ein Glück zu finden oder eine Sekunde, um die eigene Scham zu finden in dieser Suche nach Glück, die Scham und diese Sekunde, die uns in die biografische Voraussetzung zwingt, aus der es sofort auszubrechen gilt oder bringt es Glück sich fallen zu lassen? Ja, aber dann –
- wird das Glück relativierend in Bezug gesetzt zu den Möglichkeiten, den Verhältnissen; ersetzt durch die Vermeidung des Unglücks, wie Freud sagt. Und wer nachdenkt, zaudert und zögert, den Stuhl für das Glück vor der Tür hin und herschiebt, verliert Zeit und gerät in den Hinterhalt des Unglücks.
In Kleist Erzählungen und Dramen gibt es diesen Zwang zum Glück; die Lebensziele der Figuren werden nicht in Frage gestellt, das Scheitern nicht reflektiert, sondern ein neuer Anlauf wird genommen, und noch einer: das Glück und das Recht muss erzwungen werden - immer wieder. Bis in den Tod. Der Schuss in den Kopf als Möglichkeit zu überleben, als das Ich, das man sein möchte und muss. Ansonsten ist Flucht nur in die äußere Ohnmacht möglich, mit zusammengebissenen Zähnen.
Der moderne Mensch, nachzulesen in Kafkas Erzählungen, verlagert das Gefühl des Überwältigtseins, das zu unserer Kultur gehört inzwischen, in innere Bezirke. Die Zähne werden zusammengebissen, unbegreiflich, was geschieht. Niemand stirbt mehr in der Hölle, wir beißen uns durch. Im besten Fall hilft uns die Diplompsychologin von RTL am Nachmittag: Schreiben Sie Ihre Wünsche auf, schauen Sie Ihren Partner an. Ja. Und wie weiter – serviert Heidi dann keine Brühwürstchen mehr auf dem Glienicker See? Also ich. Wenn ich jetzt meine Wünsche aufschriebe, also das wäre dann schon schwierig für andere, wenn sie wüssten, was ich mir wünsche. Da schaue ich lieber niemanden an, oder doch – aber ohne die Wünsche im Mund. Adonai kann ich aber sagen. Leise.
Franz Kafka hat es lebenslang beunruhigt, dass kein Mensch voraussetzungslos leben und sterben darf, sondern unter allen Umständen ein bestimmter Mensch mit einer biografischen Anstrengung zwischen innerer Moral und den Zugriffen und Ansprüchen der Gesellschaft sein muss – in aller Scham, in allem Bemühen um Glück und Vermeidung von Unglück. Und ohne die Möglichkeit in eine Ohnmacht zu fallen, um Fragen auszuweichen: Wer sie denn sei? Das Heidi, was die Dame Eurydice heutzutage mit falschen Papieren dann belegen könnte. Und wer käme auf die Idee hinter einer Servierkraft der Rheinsberger Schifffahrtsgesellschaft Eurydice zu vermuten? Vielleicht nur, wer ahnt, dass sie nach der Arbeit die Opernklasse der Musikakademie besucht.
Das menschliche Existieren – mein Großvater trug – Zylinder und einen Seidenschal, eine Kette mit dem Bild meiner Großmutter, zog vor jedem, den er respektiere, gleich aus welchen Kreisen den Hut und grüßte, flaggte bis 1940 in der Idastraße zu Leipzig die Fahne des Kaiserreiches; meine Großmutter, fünfundzwanzig Jahre jünger, beide in zweiter Ehe, Großmutters Mann fiel im Ersten Weltkrieg in Flandern, beide mit Söhnen und Töchtern bepackt, - meine Großmutter stand morgens um sieben auf, da hatten die Tanten schon Feuer in der Küche gemacht, schmierte Brote, brachte das Leben in Gang und in Ordnung, ging in den Kolonialwarenladen, kümmerte sich und genoss es, wenn ihr Mann sie des Samstags und nach der Synagoge zu einem Glas Wein, Schnaps, Essen einlud. Da saßen sie dann. Lächelten und genossen die lauwarme Luft in Leipzig, die Blicke. Sie dachten nicht, dass sie sich zu fürchten hätten. Und mein Großvater zog seinen Zylinder vor jedermann, den er respektierte, es wurden immer weniger Menschen – den Seidenschal habe ich dieses Jahr verschenkt; seine lange Kette mit dem Medaillon meiner Großmutter besitze ich noch.
Wir in der Moderne haben gelernt, das Glück zu relativieren, es geht nicht mehr um Leben und Tod in der Liebe, es geht um die Begrenzung von Unglück – das ist eine Katastrophe, die nicht zu beschreiben und nicht zu fassen ist. Und wie weiter –
in diesem Jahr wäre ich gerne wie eine der Damen aus den Chaplinfilmen in äußere Ohnmachten gelegentlich gefallen, damit niemand sieht, was ich denke und fühle; es wären Fluchten gewesen, stattdessen – die Suche also nach Haltungen und den Konjunktiven – und – nach Lachen. Da war ich verführbar. Atmen und Lachen – aber dann – jetzt könnte ich einen langen Exkurs über den Säntis schreiben, den Blick über den Bodensee auf diese Schneelandschaft und meine fast nicht zu bezwingende Sehnsucht, da hinauf zu steigen, diese 2 500 Meter und zu sehen, was hinter all dem ist: Italien, mehr Schweiz, Frankreich. Der Blick auf den Säntis blieb für viele Jahre meine Trumpfkarte, mein heimlicher Joker, von dem niemand wusste – die Erwachsenen wussten nicht, wovon ich träumte und was ich vor hatte. Keine Ahnung hatten sie und dachten, sie hätten alles und mich unter Kontrolle.
Was tue ich heute? Ich weiß es nicht, ja ja – das Übliche - aber dass ich Silvester in Leipzig sein werde, das weiß ich und hoffe, dass das ein Anfang von etwas ist: Thomaskirche, Idastrasse Ecke Mariannenstrasse, Völkerschlachtdenkmal, Auerbachskeller, Augustusplatz. Ein Ende, ein Anfang. Und was wünsche ich mir?
Eine Reise, zwei Reisen, drei Reisen….. was wünsche ich mir?
Jay