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Was mache ich heute?
September 2006
Louis Begley wurde als Ludwig Begleijter 1933 in Polen geboren. Sein erster Roman "Lügen in den Zeiten des Krieges" schildert die Verfolgung der Juden aus der Sicht eines kleinen Jungen. Begley schrieb dieser Tage einen Artikel: "Günter Grass macht reinen Tisch - Hätte ich das gewusst, ich hätte die Flucht ergriffen." Er beginnt: "Recht zu behalten ist oft traurig." Und erzählt dann etwas, was ich aus meiner Familie, von den Erwachsenen kenne, aus den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts: Keinem Deutschen die Hand geben, der alt genug war, im Krieg gewesen zu sein. Das war schwierig, aber es gelang mit Lächeln und Reden und irgendetwas tun, anreichen, weglegen, die Hände bei sich behalten.
Begley erzählt auch davon, wie viele Deutsche endlose Gespräche führen über ihre Betroffenheit, über ihren Besuch in einem der Lager, über ihre Familie, den einen halben jüdischen Urgroßvater, den Vater oder Großvater in dieser oder jener Uniform, die kleinen Beutegüter, die noch im Besitz sind.
Bis heute ist Deutschland, die Bundesrepublik geprägt von den beiden Diktaturen, die eine mörderisch und menschenverachtend mit dem Drang der meisten Deutschen nach mehr Platz, mehr Besitz, mehr Rechten, mehr Land, mehr Macht, mehr Ausbeutung, weil Deutschsein auch meinte, besser, klüger, größer, wertvoller zu sein. Die andere Diktatur meinte auch, alles richtig und besser zu tun und sperrte sich und das Volk auf dem Staatsgebiet ein, so dass Gewalt unkontrolliert ausgeübt werden konnte. Auch in dieser Diktatur wurde in kleinem Maßstab konsequent unrecht gehandelt. Geübt war es ja. Bis heute ist der Blick nach vorne und in eine Moderne versperrt.
Paul Celan machte Günter Grass beim Schrieben der Blechtrommel Mut und hörte ihm zu. Zur Gruppe 47 ging er nur einmal, wie manche der größten deutschen Schriftstellerinnen und Autoren. Ein Vigoleis Thelen war da nie. Die Gruppe 47 war kein literarischer Ort, sondern entsprach der restaurativen Entwicklung in der Bundesrepublik, dem Weiterschleppen der faschistischen Ideologie. Der Vorwurf des Antisemitismus gegenüber der Gruppe 47 ist so alt wie die Gruppe selbst mit ihrer notorischen Haltung der Missachtung gegenüber den reemigrierten jüdischen Autoren, die keine Chance hatten zur Teilhabe an der kollektiven Erfahrung der Deutschen zwischen 1933 und 1945, an der anderen Erinnerung. Und die Erfahrungen der Emigrierten in der Welt, auf den Fluchten, in den Lagern interessierte die Flakhelfergeneration nicht. Die Gruppe 47, ihre Wortführer Hans Werner Richter, Joachim Kaiser, Martin Walser, Günter Grass, Peter Rühmkorf oder auch Heinrich Böll führten ein leises Selbstgespräch, das nicht zu einem gemeinsamen literarischen Neuanfang führte. Kritiker wie Paul Celan, Peter Weiss, Erich Fried, Hermann Kesten und Marcel Reich-Ranicki blieben in der jüdischen Minderheitenrolle gegenüber einer nichtjüdischen "geschlossenen" Gesellschaft. Celan blieb mit seiner Todesfuge, seinem Werk im deutschen Literaturbetrieb der fünfziger und frühen sechziger Jahre von marginaler Bedeutung.
Walser und Grass glauben bis heute dem Ende einer Geschichte, die sie verdrängen, entrinnen zu können. Die anderen sind tot, oder gegangen. Oder auch untergegangen. Oder sie heißen Vigoleis Thelen und haben einen der besten deutschen Romane geschrieben, haben deutsche Sprache erfunden, haben nicht verquält in dem Verdrängten, Erfundenen, Halbgelogenem egozentrisch herumgewühlt, sondern waren in der Welt und haben Sprache erfunden.
Es ist zwar ein moralisches Debakel ist, dass Günter Grass sich entschlossen hat, sein Leben lang zu lügen, zu verdrängen, sich nicht genau zu erinnern, da war er Flakhelfer sein Leben lang, eine wissentliche Lüge, und ein elender moralistischer Besserwisser, der anderen seine Sicht aufdrängen wollte - und will. Es ist auch keine schöne Sache, dass er sich nun nicht so recht erinnert und auch nicht weiß, warum er denn so lang schwieg oder log, völlig unannehmbar aber ist es, dass dieser alte Mann auch noch behauptet, dass er zum ersten Mal mit dem direkten Rassismus konfrontiert gewesen sei, als er hörte, wie weiße amerikanische Soldaten schwarze US-Soldaten "Nigger" nannten. So verdreht sich alles, statt Scham, Einsicht und vor allem Bescheidenheit gibt es neue Seitenhiebe, die Amerikaner sind die Rassisten und sowieso ist Grass wieder voll des Selbstmitleids mit sich selbst, wieder ist da kein Platz für andere, auch jetzt nicht. Grass als armer Flüchtling, der seine Schulzeugnisse verlor, mit nur wenigen Familienfotos. Und dann haut der Kleinbürger auch noch auf die Nationen mit Seitenhieben ein, die Kolonien hatten. Wie schreibt Begley: "Am Kolonialismus gibt es viel zu kritisieren, aber keine dieser Kolonialmächte setzte sich Genozid zum Ziel." Am Ende geht es darum, dass Millionen gejagt und ermordet wurden und dass Grass noch einmal stellvertretend für so viele tut, als ob immer nur das eine Verhalten möglich gewesen sei: Begeisterung für den Faschismus, Mitmachen, Mitlaufen, ein Wehrwolf werden, sich melden, zur SS gehen, sich nicht erinnern, nichts gewusst, nichts gesehen haben und aus allem bis heute Vorteile ziehen, die Diskussion bestimmen. Nur nicht den Mund halten, stille sein, andere fördern, beiseite gehen. Auch jene schmähen, die anders handelten, unter denen war auch ein Konrad Adenauer und ein Joachim Fest. Eine ganze Reihe Menschen haben deutlich gemacht, dass nicht unbedingt jeder im "Dritten Reich" mitmachen musste: Aber es waren schon Manieren, Anstand und Zivilcourage nötig. Oder der Glaube an Gott. Grass sagt und meint: Ich war dabei, alle waren dabei. Genau dies stimmt aber nicht. Genau diese Haltung beschädigt in den Auswirkungen unser Land bis heute und macht es so schwer, dass sich fortschrittliche intellektuelle Ideen entwickeln, dass Antiamerikanismus und Begeisterung für "die" Palästinenser bei gleichzeitiger permanenter Kritik an jeglicher israelischer Politik hierzulande für links gehalten werden können.
Um jeden Preis bleiben die alten Herren Walser und Grass, denen meine Onkel nicht die Hand gegeben hätten, präsent, leider auch in den Feuilletons und darin haben die Jüngeren recht: Es wird Zeit, dass anderes geschrieben und diskutiert wird.
Vigoleis Thelen gilt immer noch als der große Unbekannte der deutschen Literatur, obwohl sein Roman "Die Insel des zweiten Gesichts" als eines der großen literarischen Werke des 20. Jahrhunderts gilt: unnachahmliche sprachschöpferische Fabulierlust ist zu lesen und vor der Welt ist zu erfahren.
Was mache ich heute? Ich weiß es nicht. Klavier üben. Rasen mähen. Auf einen Vertrag warten. Über Thomas Mann nachdenken: Wer ist -
J.