J. Monika Walther
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Was mache ich heute?

Dezember 2023

Che farò senza Euridice, che farò senza il mio ben’, dove andrò...

singt Orpheus.

Die Welt von Euridice und Orpheus war viel kleiner als die Unsrige heute. Für die Beiden gab noch keine Erdkugel, kein China, Afrika, Asien und Amerika. Die Griechen hatten keine Ahnung, was jenseits der Berge und Meere sich an Land erstreckte. Ihre Feinde waren übersichtlich: diese ehrgeizigen Spartaner, die sich ausbreitenden Römer und ein Teil der Götter und Göttinnen, die in den oberen Etagen des Himmels wie auf Erden und unterirdisch ihr Wesen trieben. Oft genug undurchschaubar und nicht berechenbar für die Menschen. Aber die Geschichte mit der Kugel bahnte sich an, weil einige Forscherinnen und Philosophen behaupteten, die Sterne bildeten Schatten auf dem Erdboden ab und vermutlich wanderte dieses Stück Erde um die Sonne und nicht umgekehrt. Und nicht nur in den Legenden wurde mit Schiffen herumgefahren, sondern auch im realen Leben machten sich per Pferd und Schiff, einzeln und in Karawanen Neugierige und Wagemutige auf den Weg, ja, und einige Gierige und Halunken auch. So wurden nach und nach die Karten größer, das ganze Mittelmeer wurde mit den Küsten sichtbar. Aber noch waren die Konflikte und Interessen überschaubar. Und so schnell kam niemand von A nach B und auch das Wissen über Ereignisse verbreitete sich langsam. Per Boten und Reiter.

Vielleicht fielen in China Säcke um und Reiskörner kullerten irgendwem vor die Füße, aber das musste die Königin von Lesotho nicht kümmern, ebenso konnte es allen egal sein, was die Wikinger trieben oder ob es in England immer regnete. Sie wussten davon nichts. Heute ist das anders: Jeden Tag erfahren wir fast alle Schandtaten; im Kleinen: faschistische Schmierereien in einem Dorf, im Land: ein Politiker hat Millionen einkassiert oder gelogen oder sich mit Rechtsextremen verbündet; in der Welt: der Regenwald wird abgeholzt, Kriege werden aus Gier und imperialistischen Gründen begonnen, einer Konferenz ist das Überleben der Menschen, der Erde aus Geldgier egal.

Waren Euridice und Orpheus noch voller Hoffnungen, so wie immer wieder viele Menschen auf der Kugelerde sich Frieden, ausreichend Nahrung, Arbeit, Auskommen, Wissen und ein Glück wünschten, so wird im 21. Jahrhundert deutlich und laut gesagt, nicht nur von Faschisten, dass es zwar alles Wissen dieser Erde über eine mögliche Erdenzukunft, über ein gutes Leben für alle Menschen gibt, aber viele andere Dinge viel wichtiger sind: der Reichtum der Reichen, die Kriege der Mächtigen, die Macht und Gier aller die ihre egomanischen und narzisstischen Ziele verfolgen. Und: Wer sagt denn dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse und Forschungen stimmen, sind das nicht nur alles Verschwörungen, Fehlinformationen, geheime Pläne irgendwelcher Gutmenschen und Möchtegerne? Es gibt gar keinen Grund das Handeln der Menschen zu verändern. Es gab immer schon Hitze und Brände und Überschwemmungen. Und so fallen jeden Tag Dutzende von Reis- und Kartoffelsäcken um, Körner und Früchte kullern herum, Menschen irren flüchtend durch ihr Land, durch ihren Erdteil. Die einen bauen Mauern und Zäune, die Kriege nehmen zu, die Reichen werden noch reicher, die Mächtigen lachen sich nicht tot, sondern werden noch mächtiger, die anderen sind so dumm, dass sie alles und nichts wissen, alle Lügen glauben und jede verfaulte Kartoffel für eine Goldmünze halten und den Rattenfängern hinter her marschieren. Sie rennen mit ausgestreckten Armen und wollen nur noch eines: unter sich sein, ganz identisch mit sich und niemandem sonst. Nichts wollen sie mehr wissen und an Wissen erfahren. Ihr Vorgarten soll zur uneinnehmbaren Festung werden. Sie sind für sich selbst der einzige Maßstab und was sie nicht begreifen, gibt es nicht. Die Politik lässt sie nicht allein und befriedet sie mit halben Lügen, verdrehten Wahrheiten, Hetze. So werden die rechten Parteien stärker und die Faschisten fühlen sich bestätigt. Die Sterne werfen keine Schatten, die Erde ist eine Scheibe, die fallenden Säcke irgendwann und anderswo haben keinerlei Bedeutung. Bei uns im Dorf schmelzen keine Gletscher, der Bach ist einbetoniert, die Kirche steht im Dorf, um das Kriegerdenkmal wachsen je nach Jahreszeit Tulpen, Stiefmütterchen, Rosen. Alles normal. Die Kriege der anderen gehen uns nichts an, die Hungersnöte auch nicht, unser Supermarkt hat alles, was wir brauchen, kann also alles nicht so schlimm sein und werden. Hauptsache wir bleiben unter uns und verändern nichts.

Die Sätze: Alles hängt mit allem zusammen und alles geschieht gleichzeitig werden nicht mehr verstanden und für wahr gehalten. Noch schlimmer als diese Entwicklung ist der wachsende Hass auf Menschen: auf Frauen, Alte, Kinder (Kinderarmut, Kinderarbeit, Kinder auf der Flucht), Kranke, Migrantinnen, Fliehende aller Art, Kriegsflüchtlinge, Arme jeder Art, Menschen, die nicht weiß sind, Menschen mit anderen Religionen und Traditionen, Homosexuelle, kurzum Menschen, die keine älteren weißen Männer sind, werden gehasst, bekämpft. Schöne moderne Welt im späten Kapitalismus.

Nie wieder und wir sind mehr sind die dürftigen Reaktionen, derer, die immer noch auf die Zivilisierung der Gattung Mensch hoffen. Aber auf Dauer können wir alle nicht dem Blick aus dem Spiegel ausweichen und wir kommen auch nicht darum herum, den aufrechten Gang zu üben oder uns eben auf die Seiten der Lumpen zu schlagen. Irgendwann gibt es da keine Ausreden und Entschuldigungen mehr. Gewusst werden kann so vieles, mensch muss es nur wissen wollen und die Menge derer verlassen, die dem Kapital und den Faschisten dienen.

Was tue ich?

Das Jahr 2023 war rundum nicht einfach. Getroffen hat mich, dass ich die Zusammenarbeit mit dem Geest Verlag und dem Verein Kultur lebt e.V. beenden musste, nachdem ich endlich begriff, dass der Verlag eben kein ordentlicher Verlag ist. Zu viele Autorinnen bekamen keine Verlagsverträge, wobei diese Verträge nicht den üblichen Normen entsprechen; fast hundert Titel hat dieser kleine Betrieb dieses Jahr durch die Fotokopierer gejagt; da kann kein Buch wirklich gelesen und ‚verlegt‘ werden. Da wird auch nicht informiert, wenn ein Titel vergriffen ist oder wieviel Bücher sich verkauften.

Also was tue ich. Neue Wege suchen. Mich freuen, was alles gelungen ist an Veröffentlichungen, andere Zusammenarbeiten finden. Ich schreibe an neuen Fällen des Kommissars Simonsberg, neue Erzählungen und ich denke nach und notiere Gedichte, Passagen zum Journal der unmöglichen Reisen.

Was wünsche ich mir: Dasselbe wie das letzte Mal und das vorletzte Mal: Dass der Kampf gegen die Diktatoren, Autokraten und Faschisten gelingt. So viele tapfere Frauen und Männer wagen ihr Leben für Freiheit, Demokratie, Menschenrechte. Mit Freiheit meine ich Grundrechte, nicht dieses egoistische Geschrei um Wohlstand und Unverstand.

Und:

„Als Kind verlor ich die Reise nach Jerusalem spätestens in der zweiten Runde. Was schon ein Erfolg war. Meistens beendete ich als Erste die Reise und staunte wie geschickt und schnell sich Klassenkameradinnen auf Stuhlränder quetschten. Manchmal beneidete ich sie, manchmal fand ich das Zuschauen schöner als die Rennerei, über das laute Juchzen staunte ich. Ich spürte, wusste, dass ich auch so ein Jauchzen in mir hatte, aber ich wartete noch ein paar Jahre, bevor ich tanzte und lachte. Und manchmal dachte ich, dass mir von der Welt auch ein Stück gehört. Aber die Familie und die Geschichte des Landes gibt jedem Kind einen Rucksack mit Wackersteinen mit. Funktionieren sollten wir Kinder, es allen recht machen, gehorchend, gleich was wir fühlten und wünschten. Nicht wenige von uns sind ausgebrochen. Von den 68ern war dann die Rede, von der Studentenbewegung. Dann von der Frauenbewegung. Ja, ich war dabei, aber das Ich sagen habe ich erst viel später gelernt. Mich als ein Ich denken. Mich als ein jüdisches Ich fühlen. Wie unendlich schwer. Funktionieren ist so viel leichter.“ (© Jay Monika Walther, Fluchtlinien)

Dass wir uns im Neuen Jahr wieder treffen.

Jay