J. Monika Walther
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Was mache ich heute?

Dezember 2022

Che farò senza Euridice, che farò senza il mio ben’, dove andrò...

singt Orpheus.

Kann die Oper noch zeigen, wann die Zeit für unsere Zukunft kommt, wann für alles Zeit sein wird? Oder wie alles war und weswegen es heute wieder Krieg gibt, Hungersnöte und Elend? Was tun wir ohne eine Utopie für die Zukunft, eine Idee, einen Plan, in dem sich das ganze menschliche Wissen wiederfindet. Oder belassen wir es bei der halb toten und halb lebenden Katze im Karton und dem falschen Leben in den preiswerten Möbeln, Ferienhäusern aller Zeiten? Im Wohnmobil in die Freiheit der Freizeit?

Die Frage ist: Brauchen wir eine neue Sprache, um uns zu verständigen, brauchen wir andere Orte und Wege der Kommunikation? Der Anfang von Himmel und Erde hat keinen Namen. Von Schöpfung ist in der Bibel und anderen Schriften die Rede. Bei den einen wurde Licht, andere malten gleich das Paradies aus; klug schrieb Johannes: Im Anfang war das Wort:

Im Anfang war das Wort, / und das Wort war bei Gott, / und das Wort war Gott. Im Anfang war es bei Gott. Alles ist durch das Wort geworden / und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist. Ein hoher Anspruch und Wert für das Wort. Wem sollte das Wort nützen, Gott, der schweigt oder uns, die wir uns um Kopf und Kragen reden? Twitter gab es damals noch nicht. Keine Werbung. Buchstaben wurden in Wände geschlagen, geritzt. Mönche verbrachten Jahre damit, Bücher abzuschreiben oder an einer glanzvollen und einzigen Ausgabe von Worten zu arbeiten. Wie ist heute der Wert von Worten zu bemessen?

Für sein Eigenes einstehen. Das ist vor allem anderen die Aufgabe der Schriftstellerinnen, vor dem ersten Wort, dem ersten Ton: Die Poetik des Suchens. Eine Bewegung, die keine Jahrhundertgrenzen, keine Zeitbarrieren kennt. Die Poetik des Suchens verharrt in keinem Beweisnotstand, muss sich nicht mit dem ersten Wort als modern, Teil der Vormoderne oder Antimoderne definieren, denn wir sind die Geschöpfe, die sich selbst beobachten, die nach einem Anfang und Ende je suchen. Und jedes Subjekt fängt als Kopie an und erschafft sich in dem Maße neu, indem es gelingt, die Kopie abzutragen. Wir wären ein Original, wenn nicht von Anfang so vieles festgelegt würde und bestimmt ist. Aber wir habe die Chance uns zu finden.

Die Poetik des Suchens beinhaltet äußerste Radikalität zu sich selbst, die Klarheit in der Phantasie und bedeutet auch, wo keine Aussicht ist, diese zu beschreiben, zu sagen, da ist keine Aussicht.

Die meisten Wissenschaften sind Ergebniswissenschaften, sind Wissenschaften, die Festgefahrenes sortieren und präsentieren, Prozesshaftes lassen sie selten zu, hinken mit Welterklärungen, mit statischen Modellen den jeweiligen Zeiten hinterher und die Insel Utopia bleibt unerreichbar. Dominanz und Allumfassendes hat in vielen Wissenschaften einen hohen Wert, dabei gibt es schon längst keine eindeutigen Kriterien mehr für die Beschreibung unserer Lebenssituationen. Kunst, Literatur ist eine der besten Möglichkeiten Beschreibungen der vielen Schichten und Bewegungen zu retten, das Erinnern im Heute zu leisten, Zukunft erfinden.

Ein Textausschnitt: „Landschaften“:

Nachtigall, wenn der Herbstwind rauscht
und Lieder singt, wo birgst du dich? Neukölln oder
in den Bäumen am Müggelsee. Oranienburger Ost,
Scheunenviertel oder schreist du am Wannsee, singst
das Lied der Redlichkeit? Das Glück ja, aber
es kamen keine Schiffe, beladen; es lag kein Bernstein und
kein Hühnergott im Meeressaum. Die graue Gischt leer.
Ohne Zukunft saß Großmutter angelehnt, den linken Arm offen,
in der Seele nicht feige, nicht mutlos, ruhig legte sie Hand an sich.
Die Schiffe kamen mit Flüchtlingen und die Stege waren versperrt.
Eisvögel und Möwen über der See, Flügel und Federn. Leere Muscheln.
Nachtigall, wenn der Sommerwind über die Felder staubt,
bin ich dann geboren, wenn du singst? Nicht mutlos,
nicht feige möchte ich reisen und lege die Hände offen.
Wohin nach Hause was hinter mir liegt. Eine Möwe spät noch
über der See. Das Wasser liegt dunkel und schwer.
Falsch und wunderbar mein Herz ausgezählt Schaltstunden
lang. Klein mit Hut schleich ich zurück kein Glück,
ließ Hoffnung Angst und Angst die Hoffnung nähren.
Was ich mir antue heutnacht was werfe ich fort. Leb
das Unablächerliche du kaufst dir keine Kuh und kein
Kalb dazu. Pack die Siebensachen. Verzweiflung
brauche ich nicht zu borgen. Lache allein. Lache laut.
Du lässt die Erde nicht für den Himmel Leben bezwungen.

Der Tag beginnt, dass keins der Eilande im Logbuch fehle,
schwankt der Boden auf Deutschlands Bildern. Jenseits
ist Dieseits und Gott würfelt immer noch nicht.
Nachtigall welches Lied singst du über den gelben Feldern?
Ist Spur und Saum und Linie im Horizont Gardinen
sinken in die leeren Fenster. Die Sonne steht hoch.

Meine Großmutter, eine Jüdin, nahm sich in ihrer Freiheit und Würde 1940 in Leipzig das Leben. 1898 begann ihr erster Mann mit dem Bau des großen Hauses in der Idastraße, Ecke Mariannenstraße; er fiel 1914 in Flandern. Mein Großvater, ihr zweiter Mann, war und blieb Monarchist, eine Hakenkreuzfahne flaggte er niemals. Zum Glück starb er im Juni 1940.

Das Haus wurde nicht arisiert, aber die Miete bewahrte auch niemand für die Eigentümer auf. Als nach dem Krieg meine Mutter wiederkam, fragte sie niemand, wo sie gewesen war und gab ihr niemand, was ihr zustand.

In den siebziger Jahren wurde das Haus von den Behörden der DDR verstaatlicht und wenige Jahre später zurückgegeben, die Mieten verschwanden auf diese und jene Konten, landeten nach der Wende in den Konkurskassen einer westdeutschen, vom Vermögensamt eingesetzten Hausverwaltungsfirma. Von Jahr zu Jahr geht es dem Haus schlechter, die Mieter ziehen aus. Und ich, die Erbin, habe es aufgegeben, dieses Haus, das mit aller Fröhlichkeit und Zukunftshoffnung einer Leipziger Bürgerfamilie gebaut worden war, zu erhalten, gar zu besitzen. Ich habe die Zwangsversteigerung beantragt und bis zum Ende des Jahres 1999 werden alle beteiligten Ämter, Treuhandstellen und Banken ihre letzte Unterschrift unter den Vorgang Haus Leipzig gesetzt haben.

Das Haus hat eine Jahrhundertgeschichte und andere werden es besitzen und verwalten und Menschen werden einziehen, heiraten: es wird weitergehen mit den kleinen und größeren Hoffnungen, aber diese große protestantisch-jüdische Familie, deutsch in ihren Hoffnungen, jüdisch in ihren Festen und ihrer Diskutierlust, preußisch in ihrer Disziplin und treu - bis das Vaterland sie ermordete oder sie wider alle Gefühle flohen - diese Familie konnte und kann ihre Traditionen, ihre Bürgerlichkeit, ihren ungebrochenen Glauben an diese und jene Werte nur in kleinen Bruchstücken, so wie in Graal-Müritz, am Ostseestrand Bernsteinsplitter anlanden und sich mit Geduld finden lassen, über diese Jahrhundert hinweg leben. Aber da ich schreibe und da ich gelernt habe, die Erinnerungen der anderen aufzuschreiben und die Erinnerungen auch in mir lebendig sind, so sind die Wohlraths, Wulfsohns, Böttchers, Blumenthals alle noch da. Sie leben.

Die Poetik des Suchens findet nur im Trivialen in einer großen erlösenden Bewegung statt. Der Mann reitet der untergehenden Sonne entgegen, die Frau erschießt den Mann und steigt in einen Zug. Immerhin: Sie ist die Modernere, sie könnte sogar die neue Moderne sein, aber wir wissen nicht, wohin sie fährt, ob sie ankommt, ob sie nicht einem anderen Sonnenuntergang erliegt, weil doch die Langsamkeit der Zeit und der Liebe so schwer zu leben sind, - eine Rechtfertigung von außen erwarten dann nur die Einfaltspinsel. Zumindest muss das Galopptempo doch mit der Langsamkeit der untergehenden Sonne abgestimmt sein. Und nicht allzu viele wissen, dass die Sonne erst untergeht, wenn wir sie nicht mehr sehen und der Himmel dann noch Stunden hinter den Wollen sich einfärbt. Mit dem Ritt in die Sonne ist es nie getan. Danach kommen die Kämpfe der Partisanen.

Wissen die Dichterinnen besser, was Kultur und was Fälschung ist? Eine der bedeutendsten akademischen Leistungen der Neuzeit besteht in der Entwicklung von Techniken, welche die Aufdeckung von Fälschungen ermöglicht. Diese Techniken setzen ein geschärftes Bewusstsein für Anachronismen voraus.

Um 1780 fand in Deutschland der Begriff Kultur allgemeinere Verbreitung - Geist und Kultur - und damit dokumentierte sich wohl ein geschärftes Bewusstsein über die Zusammenhänge des Wandels in Sprache, Recht, Kunst und Wissenschaft.

Wo die Deutschen von „Kultur“ sprechen, bevorzugen die Franzosen die Wendung „le progrès de L’ésprit humain“ und meinen damit eine periodisierte Geschichte mit den Meilensteinen wie Schrift, Druck und cartesische Philosophie. Die Sehnsucht, dass Welt erklärbar und Zeit einteilbar wird, ist menschlich und ziemlich groß. Zeit ist unbezwingbarer als die wildeste See, Zeit geht. Und wir haben keine Zeitmaschine. Wir werden immer weiter in die Zukunft geschubst, nein, sie kommt einfach. Gleich ob und wie wir die Vergangenheit begriffen haben und wie weit wir mit der Poetik des Suchens sind.

Die Kunst, die Literatur gewinnt aber erst Leben, Bewegung, Farbe und ideellen Gehalt aus der Perspektive einer Gegenwart, die das Resultat unserer Vergangenheit ist und einer erfundenen Zukunft.

Was tue ich?

Mich freuen, dass es mit der Journalistin Claudia Marcy ein Gespräch über die ‚Fluchtlinien – wie die Welt sich in innen und außen teilte‘ gegeben hat, dass ich nun zwar ziemlich alt schon bin, aber endlich erwachsen. Auf mich gestellt und frei. Wenn ich mit dem Korrekturlesen und Korrigieren fertig bin, kann ich endlich das Tagebuch der unmöglichen Reisen schreiben.

Was wünsche ich mir: Dass der Kampf gegen die Diktatoren, Autokraten und Faschisten gelingt. So viele tapfere Frauen und Männer wagen ihr Leben für Freiheit, Demokratie, Menschenrechte. Mit Freiheit meine ich Grundrechte, nicht dieses egoistische Geschrei um Wohlstand und Unverstand. Und ich hoffe, dass die Menschen in der Ukraine mit aller Hilfe, die möglich ist, den Kriegswinter überstehen. Dass sie wieder in Frieden in ihrem Land leben können. Dass Europa mehr zusammensteht, die Unterschiede respektiert, die Traditionen der Kulturen, aber viel mehr zu einer Stimme gegen Unrecht, Faschismus und die Vernichtung der Erde findet. Also auch gegen den gierigen, alles zerstörenden Kapitalismus. Wir könnten uns ändern und anders leben. Vielleicht sogar mit mehr Glücksekunden.

Und:

im Himmel, unter der Erde
werden die Steine gelegt
die Hände warm
das Singen der Gänse
beim Aufbrechen der Wiesen
das Weinen der Schwäne
die Flügelschläge der Enten
ein Motorrad rast durchs Dorf.
Licht an Licht aus. Der Tag fällt.

Else Lasker Schüler:
Komm wir wollen uns näher verbergen
das Leben liegt in allen Herzen.

Jay