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Was mache ich heute?
Oktober 2022
Che farò senza Euridice, che farò senza il mio ben’, dove andrò...
singt Orpheus.
Einen Ort finden, um der Zeit zuzuschauen. Oder Zeit haben, um einen Ort zu finden, um zu erleben, was nach der Zeit kommt. Nach dem Suchen, Warten und Zuschauen. Es sollte für jeden Menschen wenigstens einmal einen Ort und eine Zeit geben. Für Euridice die Bäume, die Bühne und den Hades, für Orpheus den Abenteuerspielplatz und die Bühne. Also mehr als eine Zeit und einen Ort. Ob sie ihrer am Ende gewiss waren und was sie von sich hielten, wir wissen es nicht. Von Selbstoptimierung oder Achtsamkeit hatten sie vermutlich beide noch nichts gehört. Sie haben sich eher verschwendet. Ich kenne all diese Wörter und die Ideen, Ideologien dahinter, aber gelebt habe ich eher auch (zu) verschwenderisch mit mir. Was keineswegs gut für andere und einen selbst ist, weil zu oft alle Beteiligten sehr viel mit vielem anderen, was sie in Wirklichkeit wollten, verwechseln. Wir wissen ja auch nicht, ob Euridice im Hades bleiben wollte, ob Orpheus einen Mord begangen hat, ob er sang, weil er eine hübsche Stimme hatte oder weil er singen musste. Um jeden Preis. Heute wissen wir bei vielen, die schreiben auch nicht, warum sie das tun. Leidenschaft ist selten zu spüren.
Früher, als Kind, dachte ich die Idastraße in Leipzig wäre mein Ort und auf den Gleisen hinter dem Haus fuhren die Güterwagen mit Tonnen von Zeit und Kohle in die weite Welt, mindestens bis zu dem schönen Hauptbahnhof. Später wurde der Blick vom Hamburger Michel über die Trümmer zum Hafen oder über den See von Friedrichshafen aus zum Säntis mein Ort und meine Zeit. Niemand konnte mich erreichen. Ich träumte mich erwachsen, bis ich jedoch endlich erwachsen war, fraßen noch viele Ziegen meine Schlüsselblumen von den Alpwiesen. Aber nach vielen Blicken zum Säntis, über den Neckar, vom Michel und über den Ärmelkanal, stand ich alleine in der Welt. In Münster vor dem Institut für Publizistik. Und lernte neue Welten kennen. Und mich. Woher kam die feste Entschlossenheit, dass ich zwar frech dem Rektor dieser großen Universität sagte: das ist unser Institut, hier haben Sie nichts zu bestimmen. Ich stand auf einer Leiter malte den Vorraum mit roter Wandfarbe aus. Der Rektor ging, drohend, aber auch perplex. Genauso entschlossen wollte ich nicht, dass irgendetwas im Institut zerstört wurde, Bücher vom Dach in den Nonnengarten geworfen wurden oder im Keller das Archiv beschädigt wurde. Ich wollte Veränderung, mehr wissen und erfahren, die Faschisten verurteilt sehen. Ich wünschte mir die SPD in der Regierung. Ich hoffte auf eine neue Vernunft, auf anständige Diskussionen und eine moderne Zivilisation, eine Gegenwart, die offen war für die vielen Möglichkeiten, die Menschen haben könnten. Alle Menschen. Gleichzeitig lebten wir aber im Kalten Krieg, mit ständigen atomaren Drohungen, mit reaktionärem Muff in den Köpfen. Und die meisten der linken Gruppen forderten mit immer absurderen Parolen gewalttätige Veränderungen, manche unterstützten die Diktatur in der DDR, andere vergötterten Mao oder Stalin. Oder Trotzki, was noch erträglich war. Alle beschimpften einander und warfen jedem Verrat vor. Dasselbe Prozedere durchlief dann auch die Frauenbewegung. Ich endete als faschistische Luxemburgistin im Namen der Schwarzen Botin. Und damit war auch mein Verlag Frauenpolitik abgestempelt. Ich ließ es gut sein, verlegte und schrieb, fuhr nach Spanien in den Widerstand gegen Franco und flüchtete dann nach Portugal, half bei der Landarbeit in Aveiras da Cima. Ich begriff, dass Doktrinen, Ideologien das Unwichtigste beim Widerstand gegen Faschismus sind oder bei einer Flucht vor Krieg und Gewalt. Sie geben keine Kraft, um eine Haltung zu gewinnen und auch durchzustehen. In Zuneigung zu anderen Menschen.
Unvergessen ist mir die Geschichte aus Amsterdam, von meinem Onkel Jaap erzählt: mehrere Studentinnen und junge Männer planten gegen die deutschen Besatzer Widerstandsaktionen. Menschen verstecken. Den Gestapochef töten. Sie alle hatten unterschiedlich Angst und unterschiedlich Mut, also suchten sich alle eine Aufgabe. Die Pistole besorgen, ein Fahrrad zu einer bestimmten Zeit in der Kerkstraat abstellen, mit dem bei einem Anschlag benutzten Fahrrad und der Pistole zu einer bestimmten Gracht fahren, Papier für Flugblätter besorgen, drucken, verteilen. Einen SS-Führer erschießen. Mein Onkel sagte: Zum Schießen fehlte mir damals der Mut. Ich habe das Fahrrad besorgt und hingestellt. In Münster haben wir damals Ulrike Meinhof ein paar Tage versteckt und sie dann weitergebracht. Mehr nicht, nur eben das. Weil wir sie mochten, nicht weil wir die Ziele teilten. Ich war nicht der Ansicht, dass die Republik und Demokratie mit Waffen angegriffen werden, dass Menschen verletzt oder getötet werden müssten. Obwohl die Polizei damals oft genug jenseits aller Gesetze und radikal agierte. Wenn die Faschisten heute so behandelt würden, wie wir damals, wären diese grölenden Aufmärsche nicht möglich. Damals wurden alle, die einen Artikel von Astrid Proll nachdruckte, vor Gericht gestellt wegen Unterstützung einer terroristischen Organisation. Ich habe zwei solcher Verfahren überstanden. Sollten noch einmal Faschisten in Deutschland an Macht gewinnen und den Terror verbreiten, den sie jetzt schon jeden Tag herausbrüllen und in den Parlamenten aussprechen, würde ich schießen. Nie wieder heißt nie wieder. Widerstehen können nur die, die wissen, fühlen, dass Leben weder heroisch noch schäbig klein ist. Jeder Tag ist ein Entwurf für Liebe und Zivilisation, für Neugier, Lachen und Abenteuer. Und ja, auch für Katastrophen, Elend, das die Menschen den Menschen antun. Nicht immer gelingen die Schritte, um einen Platz zu finden, an dem es sich lohnt zu leben, nicht immer gelingt es, die Zeit zu erleben und die Seele zu spüren, all das, was mehr ist als man selbst. Bei dem Blick über einen Fluss, in den Himmel.
Es ist Krieg in Europa. Nicht nur in der Ukraine. An den Grenzen kämpfen Flüchtlinge um ihr Leben. In autokratischen Staaten aller Arten werden Menschenrechte nicht beachtet, Frauen noch mehr unterdrückt wie im Iran und Afghanistan, Demokratinnen eingesperrt. Faschisten ziehen durch die Straßen und wollen zurück in die Vergangenheit der Vernichtung aller Andersdenkenden, Anderslebenden. Und nie versteht die Reaktion, die Rechte, dass ihre Herrschaft immer auch die Zerstörung der Wirtschaft, der Zukunft, der technischen Entwicklung, des Wohlstands bedeutet und notwendigerweise in Ausbeutung und Kriegen enden muss. Also in Zerstörung, in völliger Zerstörung, auch der der Heimat, der Orte und der Zeit.
Was tue ich?
‚Fluchtlinien – Wie die Welt sich innen und außen teilte‘. An diesem Buch habe ich einige Jahre geschrieben, während andere Gedichtbände, Prosa, Hörspiele von mir erschienen. Immer lebte ich mit der Familiengeschichte und wie ich für mich eine erzählbare Wahrheit finden kann. Nein, die Wahrheit habe ich nicht gefunden, nicht einmal die Wege aller Verwandten konnte ich verfolgen, aber wahr ist, dass Ort und Zeit nun in mir sind.
Was wünsche ich mir: Dasselbe wie vor Monaten schon. Dass es genügend Frauen und Männer gibt, die der Vernunft, der Zivilisation, der Erdkugel, also sich selbst noch eine Chance geben, in einer Freiheit für alle. Gleich sind wir nicht, Schwestern werden wir nicht alle, aber selbst bestimmen, wie jede leben will, in sozialer Verträglichkeit, dafür sollten alle einstehen. Alle werden es nie sein, aber so viele wie möglich. Jede an ihrem Ort, zu ihrer Zeit. Es darf nicht immer mehr Diktaturen und Faschisten geben. Wir sind gefragt.
Und: Der Herbst hat wunderbare Farben. Wir haben es in diesem Land immer noch sehr gut. Auch wenn für Kranke und Arme vieles völlig falsch läuft, aber statt all dem Geschrei und dem Genörgel können wir einfach schauen, wie es den Nachbarn rechts und links und über dem Weg geht. Und helfen. So einfach kann das sein. Statt Reichsbanner und Preußenflaggen zu schwenken, die Nachbarin zum Arzt fahren. Statt Grölen für jemanden einkaufen. Sehr viele sind so erwachsen und tun das alles schon. Ganz ohne Geschrei, so dass die Vögel noch zu hören sind.
Jay