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Was mache ich heute?
Juli 2024
Che farò senza Euridice, che farò senza il mio ben’, dove andrò...
singt Orpheus.
Ja, die Griechen hatten auch ihre Sorgen und Nöte. Die Göttinnen und Götter, die Heerscharen der Nymphen und Boten richteten viel Durcheinander an, ab von den großen Dramen, die entstanden und uns bis heute beschäftigen. Hat Orpheus sich absichtlich umgedreht, um Euridice los zu werden? Oder jammerte Euridice so laut, damit Orpheus sich umdrehte und sie im Hades bleiben konnte? Eine Serie mit sechs Staffeln zu je acht Folgen wäre zu erfinden, um dem ganzen Drama gerecht zu werden und den möglichen Mord aufzuklären.
Was es zu den damaligen Zeiten noch nicht gab, das waren Luxusjachten in gigantischen Ausmaßen, auf denen luxuriös herumgelümmelt und zum Spaß ein Feuerwerk gezündet wurde, das griechische Wälder in Brand setzte. Ja, es gab Reiche und Arme, wie immer seit Menschen die Erdkugel bevölkern. Es gab auch immer schon Menschen, die ohne Sinn und Verstand, Anstand und Würde lebten, aber der Reichtum war zu den guten alten griechischen Zeiten noch nicht mit überbordender Einflussnahme, Macht und einem geschmacklosen, sinnlos verschwenderischen Verhalten verbunden. Die Weiterentwicklung der Menschheit hat im Augenblick einen fragwürdigen Zustand erreicht. Wissen, Wissenschaft, Forschung genießt kein Ansehen mehr. Methodischen und logisches Denken auch nicht, jede Verschwörungsstory ist wahrer als bewiesene, mit Forschungsarbeit abgeklärte Fakten. Die Sonne dreht sich um die Erde.
Was es im alten Griechenland auch noch nicht gab, war Antisemitismus. Es existierten Freunde und Feinde und wie immer waren die eigenen Nachbarn einem näher, als irgendwelche Nordländer oder die ewig in Kriege verwickelten Römer. Glaube und Religionen waren wie heute mit der Herrschaft verbunden und wurden benutzt, aber noch gab es nicht so umfassende Ideologiegebäude um die verschiedenen Religionen wie im Mittelalter und heute.
Der Antisemitismus in Deutschland war nie verschwunden, so wenig wie die vielen Nazis und Faschistinnen nach 1945 weg waren. Sie lebten meist unbehelligt, waren gut vernetzt, blieben in ihren Ämtern und hielten sich allenfalls bedeckt, aber die faschistische Ideologie, der Rassismus blieben die Grundlage für das Handeln und Denken, das Unterrichten und politische Planen. Die Überlebenden, die in Deutschland blieben oder sogar aus der Emigration zurückkehrten, waren keineswegs gern gesehen. Auch sie hielten sich bedeckt, waren keine ‚Juden‘ mehr, wollten nicht erkannt werden. Nur irgendwie leben. Was bildet sich unter diesen Bedingungen für ein Referenzrahmen? Welche Tradition entwickelt sich? Was wird erzählt, was wird weitergegeben? Im Fall der jüdischen Familien kann ich sagen: geschwärzte Familiengeschichten und beredtes Schweigen. Ich musste begreifen, dass ich nichts über meine Familie wusste. Nein, so stimmt es nicht. Ich wusste alles Mögliche und viel Unmögliches. Ich war gefüttert worden mit Geschichten, die Wahres enthielten, um die Wahrheit zu verbergen. Und mit Geschichten, die erfunden waren, weil dem fragenden Kind etwas erzählt werden musste. Viel geschwiegen wurde auch. Halbwahre Geschichten und wahre Lügen ergaben eine geschwärzte Akte der Familiengeschichte.
Ingeborg Bachmann schrieb: „Das ganze Leben ist der Versuch, es zu behalten.“ Ja, aber erst einmal muss ich ja ein Leben bekommen, wissen, welches Leben zu mir gehört. Wir Nachgeborenen hatten selten eine Chance in einer jüdischen Tradition aufzuwachsen, eine runde Geschichte zu hören, zu wissen, wer wir waren. Wir waren niemand, denn eigentlich sollte es uns nicht geben. Und wenn es uns nun schon gab, warum in Deutschland, warum nicht in Israel. Da zählte es nicht, dass meine Familie sich als eine sehr preußische begriff.
Als ich ein Kind war, verkleidete sich der Antisemitismus in die Wut, die Ablehnung, den Ärger über Fluchtlinge. Dann waren wir ein paar Jahre wie alle anderen. Als ich zu schreiben begann und ein klein wenig den Mantel des Verschwiegenen lüpfte, gab es keine Lesung oder Veranstaltung, auf der ich nicht nach Israel gefragt wurde, nach meinem Ministerpräsidenten Rabin. Als ich später endlich meine Sprachlosigkeit verlor und auch immer wütender wurde, je mehr ich über meine Familiengeschichte erfuhr, gab es immer mehr laute und antisemitische Situationen. Und irgendwann wurde ich dann als jüdische Schriftstellerin gehandelt und das war eine sehr besondere Art des Antisemitismus, als wäre nicht Literatur und Können der Maßstab. Aber außer dem Erleben des Antisemitismus hatte ich kein jüdisches Leben, wenigstens war ich nun eine jüdische Schriftstellerin. Woher sollte das jüdische Leben aber auch kommen? Wo sollte ich das Lebensgefühl, die Tradition, Bräuche gelernt haben? Jetzt bin ich so alt, dass ich mich freue, am Freitag auf Facebook anderen Schabbat Schalom zu wünschen und am Samstag Shavua Tov. Den Ablauf des jüdischen Jahres, die Festtage zu kennen. Und ich habe eine Ahnung und fühle, dass die Jüdischkeit viel mit einem bestimmten Lebensstil zu tun hat, viel Kultur ist, Einstellung zum Leben. Vermutlich mehr als andere Religionen. Aber der Antisemitismus lebt ja irrational als umfassender Hass, auf alle jüdische Kultur, auf Israel, auf jeden einzelnen jüdischen Menschen, wobei es keinen einzigen lebenden jüdischen Menschen benötigt, um Jüdinnen zu hassen und zu beschimpfen. Eine schauerliche Irrationalität und Lügenwelt halten den Hass in Gang. Wahr ist inzwischen auch, dass viele Menschen andere Menschen hassen, wegen der Religion, weil sie anders leben, weil sie anders aussehen, weil sie anders denken, weil sie nicht mit mir identisch sind.
So ist der arische Biodeutsche wieder als fiktive Figur auferstanden aus den Ruinen und schreit und dröhnt von deutscher Kultur (meist ohne Kenntnis derselben und der deutschen Sprache), vom deutschen Wesen, vom Deutschsein – ohne die geringste Ahnung, was dieses Sein bedeuten könnte jenseits vom Faschismus, denn Deutschland setzt sich aus zahlreichen ‚Identitäten‘ zusammen, aus vielen Bräuchen und Traditionen. Und aus zahllosen Wanderungen, Fluchten und nach endlosen Kriegen durch Jahrhunderte ist dieses Deutschland 1872 entstanden, dass sich im Faschismus durch Massenmord und Vertreibungen in ganz Europa um einen großen Teil seiner eigenen Kultur brachte.
Wir Nachgeborenen und in Deutschland aufgewachsen, wir Nachkriegskinder hatten wenig Chancen von den Erwachsenen zu lernen. Nicht wenige der Eltern, Lehrer ähnelten den Walking Dead. Ich war als Kind auf mich gestellt. Ich habe mich nach und nach erfunden.
Was wünsche ich mir:
Dass der Kampf gegen den Faschismus, gegen die Diktatoren und Autokraten und gegen die unendliche Dummheit und Gier gelingt. So viele tapfere Frauen und Männer wagen ihr Leben für Freiheit, Demokratie, Menschenrechte. Mit Freiheit meine ich Grundrechte, nicht dieses egoistische Geschrei um Wohlstand und Unverstand. Unbegreifbar die Angst so vieler Menschen vor einer lebbaren Zukunft für alle. Unbegreifbar der Hass auf andere Menschen, auf Frauen, Kinder, auf alles, was nicht ist wie früher (früher war es aber ganz anders als all die schön geredeten Erinnerungen), auf alles, was nicht meinem Egoismus, meinen Wohlergehen dient, was mir nicht einen Mehrwert bringt und sei es wenigstens einen Porsche als Dienstwagen, der Hass auf Arme und noch Ärmere, auf alle, die anders denken, leben und nicht weißblond sind.
Und: Ja, die meisten Menschen haben offensichtlich den Frieden und das Leben in einer Demokratie satt. Zu viele. Hetzen und Pöbeln wurde zum beliebten Volkssport.
Und ich: schreibe Erzählungen, Gedichte, Prosastücke, veröffentliche in Literaturzeitungen, Projekten, Anthologien. Langsam entsteht ein Band Erzählungen. Und diesen Arbeitstitel gibt es auch: Unwegsames Gelände - Journal der unmöglichen Reisen, Wenn ich schon humple, dann muss ich doch reisen.
Denn: Noch ist die Welt nicht verloren. Noch nicht.
Jay