J. Monika Walther

Wir werden wie die Träumenden Sein - Seite 4

"Vielleicht meinen sie es wenigstens mit dem Antifaschismus ernst", sagt meine Tante und heiratet weit ab von ihrer eigenen Geschichte einen Werktätigen, einen liebenswürdigen Mann, für den ich Jahre später, als Sechzehnjährige, Tabletten aus der Schweiz in die DDR schmuggeln werde und der mir viel erzählt von der Welt jenseits der Mauer, die er nie gesehen, von der er nur gelesen hat. Denn in seinen jungen Jahren erlebte er den Krieg in Rußland, die Schlammwege auf einem Krad, die Kälte vor Smolensk.

Meine Tante hat Erinnerungen an viele Jahre Familie und gute Gewohnheiten, meine Mutter hat nicht genügend Erinnerungen an die guten Zeiten der Familie. Sie findet keinen Platz für sich in der neuen Gesellschaft. Sie hadert, keine runde Sekunde findet sie, keinen Stuhl, um sich hinzusetzen und auszuruhen.

Sie beginnt einen Krieg mit den Ämtern und neuen Funktionären, um das Haus, Papiere und Entschädigungen für jüdischen Besitz. Sie verliert. Sie gilt als ein gesellschaftlich unzuverlässiges Subjekt, als eine Bürgerliche. Sie verliert ihre Stelle bei der Zeitung, sie schlägt sich als Buchhalterin durch, sie ist unzufrieden; sie mag mich nicht, sie redet nicht mit mir. Ich erinnere sie an schlechte Zeiten.

Ich werde nicht in Leipzig aufwachsen, nicht im Haus der Großeltern. Meine Mutter, die keine Papiere und Visen erhält, wieder einmal nicht, flüchtet mit mir, ich bin zehn, über Bad Brambach in die Tschechoslowakei und weiter nach Markredwitz in ein bayrisches Lager. Nach zwei Wochen verlassen wir auch dieses Lager ohne Genehmigung bei Nacht. Einen Rucksack schleppt meine Mutter und einen großen hölzernen Koffer. Den Fluchtkoffer. Ich habe ihn heute noch.

Später fährt meine Mutter Sommer für Sommer von mühselig zusammengespartem Geld in den Bayrischen Wald, in den Harz, auf den Brocken. In irgend ein kleines Dorf, dicht an der Grenze. Jeden Tag gehen wir bis an die Grenzstreifen, so nah wie möglich, sitzen im Gras und meine Mutter schaut zu den Wachtürmen, schweigt, weint, sagt: "Mein Kind, wären wir nur in Leipzig geblieben. Die Flucht hat uns kein Glück gebracht." Ich tröste sie und weiß nur, daß sie immer noch glaubt, irgendwohin zu gehören. Und das Irgendwohin liegt jenseits der bedrohlichen Grenzen. Ich weiß nicht, was sie verloren hat. Das sagt sie mir nicht. Später spricht sie nie mehr von diesen Sommern und ihrer Sehnsucht nach einem ganz anderen Leben und der verlorenen Familie. Später unterwirft sie ihr Leben einer strengen pedantischen und lebensfeindlichen Ordnung, einem Zwang zur Sauberkeit und starren, weit voraus geplanten Tagesabläufen, in die ich mich einfügen muß. Ein Entkommen gibt es nicht, ein Reden auch nicht. Keine Geschichten.

Mir ist die ungestillte und unstillbare Sehnsucht geblieben dazugehören zu wollen. Zu einem Ort, einer Landschaft, einer Familie, einem Menschen. Das ist die verletzbare Stelle meines Lebens. Und in diesem Punkt bin ich immer verführbar und erpressbar geblieben. Genug ist nie genug und die Ratio verliert seit Kinderzeiten gegen alle Selbstrechtfertigungen.

Wer mir Familie anbietet, kann mit mir rechnen. Wer mir seine Heimat und die Ausblicke darin schenkt, zu dem gehe ich. Wer mir seine Augen gibt, um eine Landschaft zu sehen, den sehe ich an. Ich möchte schnell Wurzeln schlagen. Ich kann schnell Wurzeln schlagen, mich in fremde Umstände hineinfinden, mich zu Hause fühlen, mich in Landschaften hineinschauen, neue Gewohnheiten und Menschen und Sprachen annehmen. Ich brauche lange, fast zu lange, um anders mit mir umzugehen.

Ich bin zweiundzwanzig Mal umgezogen. Ich lausche jedem Zug sehnsüchtig nach, als führe er dorthin, wo ich hin müßte. Ich schaue gern in die Ferne, übers Meer, an die anderen Ufer. Wenn ich reise, bin ich neugierig auf der Suche und mit ganzem Herzen und Kopf unterwegs. Und habe doch das Gefühl im falschen Zug zu sitzen und daß mit jeder Station die Rückreise länger wird. Aber das ist eine alte jiddische Geschichte. Es geht immer um den Weg und nicht um das Ziel.

Ich verharre entweder ruhig, um nicht aufzufallen und um mir zu beweisen, daß ich einen Ort gefunden habe, an dem ich bleiben kann oder ich bin unterwegs, in Bewegung, auf der Suche nach Heimat, die für mich nicht ein Ort ist. Für mich ist Heimat Tradition, die Lebensart, ein paar religiöse Überlieferungen. Vor allem den Lebensstil, den kann ich überall hin mitnehmen. Und zwei Kerzen zum Schabbat. Aber manchmal sehne ich mich nach dem Gefühl, nach Hause zu kommen, zu Hause zu bleiben, ruhig zu werden, sitzen zu bleiben. Dann bin ich noch erpressbarer und lebe Gefühle, viel zu viele Gefühle. Immer viel zu viele Gefühle. Dann möchte ich weglaufen und zurückkommen. Weglaufen, damit ich zurückkommen kann. Zurückkommen, damit ich nicht mehr unterwegs bin.

Heimat ist für mich keine geographische Größe, auf keine Stelle der Landkarte möchte ich den Finger legen: Heimat ist eine seelische Verfassung, ist der Versuch, die eigene Tradition zu bewahren, die Auffassung vom Leben konsequent zu leben und die innere Balance zu halten, gleich unter welchen äußeren Umständen.

Ich habe eine Heimat, aber ich kann keinen Finger auf die Landkarte legen und sagen, da ist sie. Es ist die Prinsengracht in Amsterdam und der Michel in Hamburg, es sind die feuchten westfälischen Wiesen und Felder mit ihren Nebelschwaden zu allen Jahreszeiten und die Straßenbahnfahrt von der Idastraße zum Augustusplatz, es ist der Gang in Rostock an der Warne längs und das Schlendern durch das alte Scheunenviertel in Berlin. Es sind die Bücher der Bachmann und der Aichinger, die Filme aller deutscher Emigranten aus Hollywood. Es ist der Fischgeruch an der Lawerzee und der süsse Duft des blühenden Ginsters im Luberon und den Cevennen. Es ist das leichte Lachen und Erzählen bei Festen mit Freunden, das Brotbrechen und Essen.

In Fotoalben, die ich erbe, im Familienalbum, fehlen Bilder. Es fehlen Bilder, die herausgenommen und es fehlen Bilder, die nie fotografiert wurden. Herausgerissen wurden immer die Bilder der anderen, der jüdischen Verwandten oder der arischen Verwandten. Und die Bilder, die den Chanukkaleuchter zeigen oder zwei brennende Kerzen am Schabbat.

Nicht fotografiert wurden die Abreisen ins Ausland, die letzten Familienfeste und Geburtstage. Keine Fotografien gibt es mehr nach 1940 von meiner Mutter und anderen in Deutschland, England und den Niederlanden lebenden, überlebenden Geschwistern und Verwandten. Es fehlen die Porträtaufnahmen, die jedes Jahr beim Fotografen bestellt wurden und es fehlen die Fotografien von kleinen und neugeborenen Kindern auf Bärenfellen. Es gibt von 1939 bis Kriegsende keine Geburten mehr. Später fehlen dann auch die Familienfotos. Da gibt es keine liebevoll arrangierten und gestellten Aufnahmen mit allen Brüdern, mit allen Frauen der Verwandtschaft, mit den Kindern.

Ich löse zwei Haushalte auf und stoße auf verschnürte Briefbündel, Papiere, Tagebücher. Ich entdecke, daß Briefe fehlen und Tagebücher mitten in Gedanken und niedergeschriebenen Sorgen und Ängsten abbrechen. In jedem der Haushalte findet sich ein Chanukkaleuchter, im Wohnzimmerschrank stehend, nicht auf der Anrichte. Ist die Angst geblieben, sich als Jude zu erkennen zu geben, die jüdischen Traditionen zu leben? Ich kann nicht mehr fragen. Ich weiß nur, daß meine Mutter die Anpassung um jeden Preis wollte. Ich sollte nicht auffallen, nicht erkennbar sein. Nach der Flucht aus der DDR und im Westen läßt sie mich protestantisch taufen. Sie erzieht mich nicht evangelisch, aber sie schickt mich in die Christenlehre und ist froh, daß ich mit dreizehn und vierzehn gerne jeden Sonntag in die Kirche gehe. Ich singe im Kirchenchor. Ich gehöre gerne in diesen beiden Jahren zu dieser Gemeinschaft mit ihren Ausflügen und kleinen Festen im Gemeindehaus dazu. Meine Mutter läßt mich auch konfirmieren. Sie wählt für mich einen Spruch aus dem Alten Testament aus: "Fürchte dich nicht, liebes Land Israel, sondern sei fröhlich und getrost; denn der Herr kann auch große Dinge tun." Aber was hätte der Herr denn für mich tun sollen? Welche Dinge, bei denen ich nicht selbst Sorge tragen kann. Niemand hat mir gesagt, was ich tun soll, und doch glaube ich, daß meine Freiheit die ist, meine Arme und Finger auszustrecken zu einer Zukunft, die in der Zeit nicht erreichbar ist. Auf der Schwelle leben, leidenschaftlich.

Mein Konfirmationsfest mißlingt. Wir sitzen wie so oft zwischen gepackten Umzugskartons und fast ohne Möbel. Die älteste Schwester meiner Mutter will, daß ich eine schöne Konfirmation feiere. Sie läßt in einem feinen Restaurant ein Essen ausrichten. Sie kommt zwei Tage früher. Sie kauft mir einen Ring. Sie schenkt mir ein in Silber eingebundenes Sidur, ein jüdisches Gebetbuch. Ich fange an zu fragen. Ich erfahre, ohne zu begreifen, was mir erzählt wird, daß die meisten der am Tisch sitzenden Verwandten, Juden sind, die Geschwister meiner Mutter. Sie stellt sich tot. So wie ich es noch oft tun werde.

Diese älteste Schwester meiner Mutter sagt: "Eines Tages werde ich nach Israel fahren." Mit fünfundsiebzig und nach dem Tod ihres Mannes fährt sie nach Jerusalem und Tel Aviv. Sie fährt mit dem Zug durch Italien und mit dem Schiff weiter. Sie sagt: "Ich will sehen, was die anderen gesehen haben." Die anderen sind die, denen es gelungen ist, nach Israel zu flüchten. Sie besucht eine Cousine und deren Kinder. Sie fährt in den fünf Jahren, in denen sie noch lebt jedes Jahr nach Israel und gibt mir Geld, damit ich auch dorthin fahren kann. Mit dem Zug, mit dem Schiff.

Ich werde konfirmiert, aber ich gehe nicht mehr zum ersten Abendmahl und damit bin ich draußen aus der Gemeinschaft der Christenkinder. Ich will aus der Kirche austreten, aber meine Mutter verweigert ihre Zustimmung. Ich entdecke, daß sie nicht in der Kirche ist und auch nie war, obwohl sie es behauptet hatte. Als ich volljährig bin, trete ich aus der evangelischen Kirche aus. Ich weigere mich nachzudenken.

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