J. Monika Walther

Wir werden wie die Träumenden Sein - Seite 5

Mit Dreizehn schickt meine Mutter mich nach England zu Verwandten. Sie reden mit mir kein Wort deutsch. Nur meine Cousine hilft mir manchmal mit einer schnellen Übersetzung, wenn ich gar nicht mehr sagen kann, was ich sagen will. Sie nimmt ihren Urlaub, mietet ein Auto und fährt mit mir in den Lake Distrikt, nach Schottland, nach Wales und Cornwall. Sie schließt mich in ihr Herz. Als ich sie später immer wieder bitte, mich in Deutschland zu besuchen, übergeht sie diese Einladungen, als hätte ich sie nie ausgesprochen. Sie liebt mich, aber sie versteht nicht, warum ich in Deutschland lebe. Was jüdisch ist, weiß sie nicht. "Vielleicht die Lebensart, das Großzügige, das Lebendige", sagt sie.

Im gleichen Jahr schickt mich meine Mutter in die Niederlanden zu Verwandten. Sie erklärt mir mit keinem Wort, warum sie mich in den Zug setzt und was ich bei diesen mir fremden Menschen soll. Ans, die Verwandte spricht kein Wort Deutsch mit mir, sie spricht überhaupt nicht mit mir. Ihr Mann, ein Niederländer, ist es, der mit mir redet, deutsch spricht und mir Amsterdam ein erstes Mal zeigt. Er bittet mich, seine Frau zu verstehen. Sie hätte zwei Jahre versteckt gelebt.

Er geht mit mir in Amsterdam in die Synagoge. Er besucht mit mir Freunde seiner Frau, die Pessach feiern. Er erzählt mir von seiner Familie und daß er kein Jude ist, aber die jüdischen Feste liebt, das gemeinsame langsame Essen, das Reden, die leidenschaftliche laute Diskussion, die Hände, die durch die Luft fahren.

In der Dämmerung des Freitags ist Ans, die Tante, noch schweigsamer als die Tage zuvor schon. Sie weist mich mit einer Handbewegung an, das Wohnzimmer zu verlassen. Während ich im kleinen und dunklen Flur warte, zündet sie die beiden Kerzen an, spricht einen Psalm, trinkt mit ihrem Mann aus einem Glas einen Schluck Wein. Erst dann darf ich wieder hereinkommen - und mit ihr essen. Sie erklärt mir nichts. Sie beschaut mich mißtrauisch.

Als ich abfahre, in der Tür stehe, es ist ihr Mann, der mich zum Bahnhof bringt und mir zuwinkt, sagt sie mit kurzen Worten und in deutsch: "Du bist eine Jüdin. Merke dir das." Ich merke mir das nicht. Ich denke nicht darüber nach. Ich stelle mich tot. Wenn ich denken würde, müßte ich denken, daß sie meine Mutter und alle anderen umbringen wollten. Aber warum? Ich will das nicht denken. Bis heute nicht.

Als ich sechzehn bin, besorgen Verwandte in der DDR in wochenlangen Behördengängen ein Visum zur Einreise für mich. Meine Mutter bekommt keines. Sie hat sich und mich nicht abgemeldet. Sie gilt immer noch als flüchtig. Ihre Akte ist gewachsen. Das Haus aber enteignet die DDR nicht, es steht unter staatlicher Verwaltung. Meine Mutter setzt mich in einen Zug nach Leipzig. Ich schmuggle Medikamente für einen Onkel und Papiere, alte Papiere und Testamente. Ich lese sie trotz strengsten Verbotes und obwohl ich sie danach und bis zur Grenze wieder verstecken muß. Da entdecke ich, den Namen Sarah vor den Namen Rosa Clara Frieda meiner Großmutter. Die Jüdin.

Trotz strengster Kontrollen bringe ich wie aufgetragen alles über die deutsch-.deutsche Grenze. Die Papiere behalte ich mit meinem Visum und Ausweis in der Hand, die Tabletten werden zum Glück nicht entdeckt und das amerikanische Geld habe ich entgegen allen Ratschlägen in die Schuhe gestopft. Es ist Ende 1961. Die Mauer ist gebaut. Die Maschinengewehre sind geschultert. An der Grenze werden die Loks gewechselt, es geht weiter mit der Reichsbahn, langsam, im Schrittempo, mit einer gelben Schwefelwolke. Die Fahrt ab Grenze bis Leipzig dauert sechs Stunden. Am selben Tag muß ich mich beim Rat der Stadt Leipzig melden.

Der kleine graue Beamte fragt nach langem Blättern und Lesen und Schauen: "Deine Mutter ist eine Republikflüchtige und eine Jüdin."

"Nein", antworte ich.

"Sei bitte ruhig", sagt meine Tante Elisabeth, die längst nicht mehr an den Antifaschismus dieser deutschen demokratischen Republik glaubt, aber zurecht kommt und die elendiglichen Spielregeln bestens kennt und bestens sie beherrscht. Soll sein ist ihr Motto. "Und laß die Dummen marschieren. Nur die Dummen marschieren. Immer schon so gewesen. Menschen mögen nicht denken." Sie hat ja recht, ich denke auch nicht, verschiebe das Nachdenken über mich.

Tante Elisabeth denkt an die Platte mit den belegten Broten, die es gibt nach zehn Jahren Schreibarbeit bei der Kohlenbrigade. Die will sie essen und Rotkäppchensekt trinken. An mehr will sie nicht mehr denken, mit mehr will sie nicht mehr rechnen.

Das Grab der Großeltern will ich sehen. Das Grab der Großmutter. In Leipzig-Volksmarsdorf soll ich suchen, hat meine Mutter gesagt. Meine Tante schüttelt den Kopf, schaut mich lange prüfend an, begleitet mich, schweigt. Es gibt kein Familiengrab, es gibt kein Grab. "Eingeebnet haben sie es", sagt meine Tante, aber sie sieht mich bei diesem Satz nicht an und sie sagt auch sonst nichts mehr.

Über dreißig Jahre später erst weiß ich, daß meine Mutter mich auf den falschen Friedhof geschickt hat. Ja, den Großvater hätte ich dort finden können, aber nicht im Familiengrab. Sondern nur eine kleine Tafel über einer Urne, ohne Hinweis auf seine Frau. Die Tafel war 1961 schon längst beseitigt, die Urne unauffindbar.

Die Großmutter aber wurde 1940 auf dem neuen israelitischen Friedhof beerdigt. Ohne Grabstein und ohne die Steine, die zeigen daß sie ewig und ungestört liegen wird und wir Lebenden an sie denken. Sie hat bis zur Verwüstung des Friedhofs dort gelegen. Alleine und niemand konnte an ihrem Grab weinen und ein Kaddisch sprechen.

Meine Tante lebt nicht als Jüdin. Sie will nicht von mir gefragt werden und nichts erzählen. Nichts von sich und ihrem Leben und nicht von anderen Verwandten in der DDR. Nur mir zuliebe und weil ich keine Ruhe gebe, lädt sie für einen kurzen Sonntagnachmittag einen Onkel, zwei Cousinen und eine angeheiratete Tante ein. Sie ist sehr unwillig, obwohl ich für den Kuchen Schlange gestanden und guten Kaffee besorgt habe.

Sie kommen um drei Uhr, setzen sich um den Tisch und schauen mich an. "Du bist also Friedas Kleine", sagen sie und schweigen. Ich bitte sie vergeblich mir von den Großeltern und sich zu erzählen. Der Onkel winkt mich gegen Abend in die Küche, sagt: "Ich mache mich immer noch kleiner, als die anderen mich klein sehen wollen. Ich schlüpfe immer noch unter ihren Blicken durch. Ich passe mich an. Ich bin kein Jude mehr. Es gibt keine Juden in diesem Staat. Christen ja, aber keine Juden. Ein paar alte Männer, ein koscherer Schlachter in ganz Sachsen und Brandenburg zusammen. Wir sterben aus. Wer nicht vergast, wer vergessen wurde von den verbeamteten Mördern, der stirbt jetzt. Einen langsamen und leisen Tod."

Der Onkel seufzt und der Seufzer klingt wie ein Zittern der Seele. "Ich schäme mich überlebt zu haben. Ich habe keinerlei Lebensart mehr." Dann geht der Onkel und redet nicht mehr mit mir. Und ich weiß auch keine Fragen mehr.

Die Tante besorgt mir noch vier Mal Visen zur Einreise in die DDR, jedes Mal dauert die Genehmigung länger. Einmal, 1969 werde ich an der Grenze nach stundenlangen Kontrollen zurückgeschickt. Ohne Begründung. Das großelterliche Haus wird trotz mehrfacher Androhung der Behörden nicht verstaatlicht. In dem viele Aktenordner umfassenden Briefwechsel, den meine Tante und meine Mutter mit den DDRorganen geführt haben, taucht einmal und ohne begreifbaren Zusammenhang der Hinweis auf, daß die jetzigen Besitzerinnen und Erbinnen allesamt jüdisch seien.

Neunzehnhundertsechsundsiebzig fahre ich das erste Mal nach Israel. Als meine Mutter davon erfährt, fragt sie: "Was willst du dort. Da hast du nichts zu suchen."

Ich antworte ihr, "wenn ich überall fremd bin, kann ich mich auch dort nicht zu Hause fühlen." Ich weiß längst, daß ich mich im jedem Ausland auch deshalb wohler fühle, weil dann das Fremdsein legitim ist und ich mich nicht anstrengen muß, mich zu Hause zu fühlen.

Gesucht habe ich in Israel nichts, aber viel gefunden. Die Selbstverständlichkeit und Vielfalt jüdischen Lebens und jüdischer Traditionen. Ich fiel nicht mehr auf, wenn ich mit den Händen redete. Das Lebhafte, das Reden in verkürzten Sätzen, das Laute, das Spielen mit Worten und Zurückfragen. Und alle waren Juden, gläubige und ungläubige, aus aller Welt und die meisten der Älteren anderswo zu Hause gewesen. Meine Geschichte war keine besondere mehr, war leicht zu erzählen, soweit ich sie damals schon wußte. Und fürchten und schämen mußte ich mich nicht. Und alle redeten mit mir. Und ich fand die wunderbare häusliche geordnete Unordnung meiner Tante Hannah wieder, bei der ich die halbe Kinderzeit verbrachte. Das Reden, das Geschrei und die dominierende Unvernunft, die unverbesserliche Unvernunft.

Dieses ordentliche Chaos allein ermöglicht es, daß jeder jederzeit willkommen ist und jeder immer ein Essen bekommen kann, ein Reden und Platz zum Hinsetzen und Ausruhen. Ich habe immer einen Topf Suppe stehen. Und wer klingelt, kann hereinkommen und sagen wie es geht oder laut in Frage stellen, daß die Erde eine Kugel ist.

Bin ich nur deshalb Jüdin, weil es Antisemitismus gibt, weil andere Deutsche mich ausgrenzen, mit Worten und dem Finger auf mich zeigen. Weil sie selbst im Wohlmeinen mich verletzen, mir aber verbieten die Grenze meiner Verletztbarkeit selbst zu bestimmen.

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