J. Monika Walther

Wir werden wie die Träumenden Sein - Seite 3

Meine Großmutter, aus einer Leipziger Kaufmannsfamilie stammend, hat drei Kinder aus der ersten Ehe, die werden von den Rasseideologen als Volljuden identifiziert. Mein Großvater hat zwei Töchter und drei Söhne aus seiner ersten Ehe, die werden, da die Mutter als Halbjüdin eingestuft wird, und mein Großvater nur eine jüdische Urgroßmutter in seiner Ahnenreihe aufweist, als verdächtige Subjekte, aber für die deutsche Volksgesundheit als noch erträglich hingenommen. Sie emigrieren und flüchten dennoch alle.

Meine Mutter wird als letzte in diese große jüdisch-protestantische Familie und Verwandtschaft hineingeboren, die nicht gläubig, nicht religiös ist. Sie gilt den Nationalsozialisten nach den Rassegesetzen als verfolgungswürdige Halbjüdin. Da die Großeltern beide neunzehnhundertvierzig sterben, viele der Brüder und Schwestern geflüchtet sind, wenige Verwandte in geborgten Idenditäten überleben und die, die bis zuletzt an ihr Deutschland glauben, deportiert und ermordet werden, steht meine Mutter mit achtzehn Jahren allein in der großen Wohnung in Leipzig, Idastraße. "Mutterseelenallein", sagt sie und weint heute noch. Kein Schulbesuch war möglich, keine Arbeit, kein Geld, kein Essen; die Leute in der Straße zeigten mit Fingern auf sie, die von der Großmutter verschenkten Lebensmittel hatten nichts Gutes bewirkt. Manche rieben sich die Hände über den tiefen Fall.

Ein Vormund wird für meine Mutter bestellt. Meine Mutter darf noch wohnen und am Leben bleiben. Die Behörden vergessen, das Haus zu arisieren. Die Behörden vergessen für Wochen, daß eine Jüdin zweihundertzehn Quadratmeter bewohnt. Meine Mutter trägt den gelben Davidsstern nicht. Der Hauswart warnt, aber denunziert sie nicht.

Eine arische Cousine gibt meiner Mutter ihre Papiere. Sie haben beide rote Haare, die wichtigsten äußeren Merkmale stimmen überein. Meine Mutter, diese junge Frau, verwandelt sich in eine andere. In Sicherheit ist sie nie. Auch nicht in Berlin, am Großen Müggelsee.

Meine Mutter will, daß ich in Leipzig, in der Idastraße geboren werde. Aber so wird es nicht sein. Und wie es wirklich war, werde ich erst erfahren, als die Mauer gefallen ist. Und das ist eine Geschichte, die ich nicht erzähle. Keinen Ohren.

Ende 1945 leben meine Mutter und ich im Haus der Großmutter, in der alten Wohnung, in den Zimmern hinter der Küche. Die Wohnung ist belegt von zwei Frauen, deren Männer zur SS gehörten. Die Frauen sind immer noch stolz auf ihre Männer und fürchten sich vor den Russen. Meine Mutter verbrennt die SS-Uniformen.

Die Leute im Haus sagen zu meiner Mutter: "Die kleine Frieda ist wieder da." Sie geben ihr die Hand, beteuern, daß sie sich gekümmert hätten, um Haus und Hof und die Miete würden sie vorbeibringen, wie früher und mit dem Mietbuch.

Sie fragen nicht: "Frieda, wo warst du denn?" Oder sie sagen nicht: "Kleine Frieda, ein Glück, daß du lebst." Sie verlieren auch kein Wort darüber, daß Namensschilder im Haus überklebt sind, daß viele Nachbarn nicht mehr in der Straße wohnen.

"Weggezogen sind sie", sagen die Leute. Geholt worden sind sie. Zur Arbeit. Tot sind sie, ermordet, vergast und verbrannt. Asche sind sie oder Seife oder eine Wolke am Himmel. Was weiß Frieda? Nichts weiß sie.

Meine tüchtige Mutter macht sich nach meiner Geburt auf die Suche nach ihren Brüdern und Schwestern. Sie findet die Überlebenden in Hamburg, im Schwarzwald, immer noch wie versteckt lebend, leise atmend, leise gehend. Kein lautes Wort. Überempfindlich für die Freude und fürs Leben. Sie findet sie im Erzgebirge, in Thüringen, in Vorpommern, Mecklenburg und Polen, in Frankreich, England und den Niederlanden. In Amerika und Österreich. Mit falschen Papieren, fremden Namen, absichtlich kein Deutsch mehr sprechend. Müller und Miller heißt die Hälfte der Familie nun. Ein Tarnname.

"Warum lebst du in Deutschland?" wird meine Mutter von den Emigrierten, Geflüchteten und Überlebenden gefragt. "Geh mit dem Kind weg."

"Ich bin Deutsche", sagt meine Mutter. "Wir waren nie Juden, bis die Nazis uns dazu gemacht haben." Sie sagt: "Leipzig ist meine Heimat. Das Haus ist alles, was uns geblieben ist. Ich werde es nicht aufgeben. Das Kind soll es erben. Das Kind soll in Leipzig aufwachsen, ein Zuhause haben und eine Heimat. Das Kind gehört nach Leipzig. Und ich auch. Die schönsten Erinnerungen habe ich an Leipzig." Der Beginn einer Reihe von Selbstrechtfertigungen. Diese fatale Neigung habe ich fortgeführt, auf Widerruf akzeptiert fühle ich mich und ziehe den Kopf ein, fühle mich hilflos, immer auf die Probe gestellt, immer mit der Idee im Kopf, ich muß es besser machen. Immer ein bißchen auf der Flucht und mit aller Sehnsucht. Aber wonach?

Meine Mutter reist mit falschen Stempeln und Pässen durch die Zonen, denn die Russen geben ihr keine Ausreisepapiere aus der sowjetisch besetzten Zone, die Behörden geben ihr keine neuen Papiere. Offiziell gab es meine Mutter nicht mehr, weil sie ihre eigenen Papiere nicht mehr besaß und das Leipziger Standesamt sie gestrichen hatte. Auch meine Geburt wurde nur vorläufig beurkundet.

Auf ihren Reisen sucht meine Mutter nach verschwundenen Menschen, verloren gegangenem Besitz und einer Familie, die es nicht mehr gibt. Mich läßt sie zurück. In Leipzig. "Anders geht es nicht", sagt sie. "Anders ging es nicht", sagt sie immer noch.

Von jeder Reise kommt sie ratloser und erschöpfter zurück. Sie versteht nicht, was sie erlebt hat und niemand erklärt der jungen Frau, warum ihre Familie, ihr Zuhause nicht mehr existiert. Alle, auf die sie trifft, sitzen auf gepackten Koffern, sind auf der Suche nach neuen Orten, Arbeit und der Entscheidung, in welchem Land sie leben wollen. Unsicherheitsgefühle, Rechtfertigungen, Selbstzweifel prägen meine Mutter und mit Zentnergewichten an den Füßen und Tausenden von bis heute unausgesprochenen Worten geht sie durch ihr Leipzig, das fremd ihr und fremder wird. Die kleine Frieda kommt nicht an.

Meine Mutter erreicht die Freigabe ihrer Wohnung, arbeitet bei einer Zeitung und begreift nicht, daß es niemand kümmert, was geschehen ist, es keine Aufregungen unter den Menschen gibt und noch weniger kümmert, was ihr geschehen ist.

Sie versucht die Rolle meiner Großmutter einzunehmen; das mißlingt. Ihr fehlt die Ruhe der Tradition, die Sicherheit, die Gelassenheit. Ihr fehlen auch die helfenden Tanten, das Geld und die sonnabendlichen Treffen der ganzen Familie, bei denen gesungen, gegessen, diskutiert und einander geraten wurde. Niemand stand allein im Leben. Geriet einer der Brüder in Mißlichkeiten, halfen ihm der Großvater oder die anderen Verwandten, lief etwas schief, taten sich alle zusammen und überlegten laut und leise. Die kostbaren Taschenuhren der Brüder wurden von den Großeltern, heimlich voreinander, immer wieder bei der Pfandleihe ausgelöst.

Aber seit 1940 zündet Freitagsabend niemand zwei Leuchter an, reicht ein Glas Rotwein herum, streut Salz auf das Brot und singt ein leises Lied und spricht ein Kaddisch. Für niemanden war das Religion, das waren gute Gewohnheiten. Nach dem Essen saßen die Männer im Herrenzimmer und redeten leise und die Frauen der Familie redeten laut. Und wer immer auch klingelte, war willkommen. So soll es gewesen sein. Manchmal kam auch der kleine Moses mit Brille und wußte alles besser. Im obersten Stock wohnte er mit seinen Eltern und half im Laden unten aus. Der einzige gläubige Jude im Haus, der einzige, der alle Regeln kannte, die das Leben regeln. Genutzt haben sie ihm nichts. Erschlagen haben sie ihn auf der Straße, als er Ware austrug.

1945: Meine Mutter und ich, wir hungern. Sie ist für jeden Schwarzhandel und Tausch zu stolz. Ich kann ihr erst helfen, als ich alleine loslaufe. Ich bettle alle an, starre ihnen auf Brotkanten, Wurst und die Äpfel, bis ihnen die Bissen im Hals stecken bleiben und sie abgeben. Bis dahin übernimmt eine Halbschwester meiner Mutter die Geschäfte, die nötig sind, damit wir mehr als geröstetes Sägespänebrot und faule Kartoffeln zu essen haben. Sie zaubert aus einem alten Silberbesteck einen Kinderwagen für mich, Mehl, Zucker und für sich Zigaretten.

Meine Tante findet sich in den neuen Zeiten zurecht, ordnet sich mit einem spöttischen Lachen ein in die Reihen der Arbeiterklasse. "Jetzt sind die Leute eben alle Arbeiter und Bauern", sagt sie, "vorher waren sie gläubige Volksgenossen."

Diese ältere Halbschwester, emigriert, nachdem sie ihren Verlobten im Widerstand verloren hat, war wegen meiner Mutter nach Leipzig zurückgekommen. Kümmern will sie sich um die kleine Frieda und ihr Kind, aber sie und meine Mutter geraten immer wieder in Streit, über die neuen Verhältnisse, das neue System.

Meine Tante nimmt die Zeiten wie sie sind, macht das Beste aus der neuen Ideologie, beschließt sich in diesem deutschen demokratischen Staat einzurichten. In Gottes Namen. Die alten Zeiten waren vorbei, hüben wie drüben. Die Böttchers und Wohlraths, die Blumenthals und Fischmanns gab es nicht mehr, kein Wunder, dem einer leise die Hand hinhalten könnte und es setzte sich ein Vogel.

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